Der Teufel als Autostopper

Franz Hohler: Seine kurze Geschichten sind »nach allen Himmelsrichtungen hin offen«

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 4 Min.

Gerade in kurzen und sehr kurzen Texten mag die Maxime, die Walter Benjamin in seinen »Dreizehn Thesen« zur Technik des Schriftstellers formulierte, besondere Gültigkeit erhalten: »Die Rede erobert den Gedanken, aber die Schrift beherrscht ihn.« Ein Anspruch an die Schriftform, der sich besonders streng im Paradoxon erweisen muss. In Sätzen wie diesem: »In Gelsenkirchen ist die Natur das Unnatürliche.« Nein, Franz Hohler ist wohl kein Freund dieser Ruhrgebietsstadt mehr geworden. Über Gelsenkirchen zu schreiben, dabei jedoch das dort pochende Fußballherz mit keinem Wort zu erwähnen sowie den Mythos Schalke lediglich aufzulisten unter anderen Stadtteilen wie Buer, Horst und Erle, allein dies mag bereits als Kunststück gelten.

Eines, das Franz Hohler in seinem 1970 erschienen Band »Idyllen« gelang. Dort repräsentiert Gelsenkirchen den Buchstaben G, ist zwischen Friedhof und Herisau angesiedelt und Bestandteil einer allumfassenden Dekonstruktion des Titelbegriffs. Das frühe Werk bildet nun den ersten Teil des Sammelbands »Der Autostopper«. In diesen wurden Hohlers acht Bücher mit kurzen Erzählungen aufgenommen; das 2008 erschienene »Ende eines ganz normalen Tages« bildet den sinnfälligen (und hoffentlich vorläufigen) Abschluss einer erfreulich produktiven Entwicklung.

Die kurze Geschichte ist nicht in erster Linie knapp bemessen, sondern vor allem die ideale Fläche fantasievoller und prägnanter Projektionen. »… sie ist nach allen Himmelsrichtungen hin offen, und ihre Interpretation kann fast nur unsere Assoziation sein, wir können anknüpfend dort weitergehen, wo es uns hinzieht mit unsern Gedanken, Erinnerungen und Träumen«, bemerkte Hohler im November 2003 in seiner Poetik-Vorlesung für die Zürcher Universität. Doch auch dem Autor bietet sich die kurze oder Kürzestgeschichte als eine Dimension des Unvorhergesehenen an, in der er abseitige und unkonventionelle Ideen entfalten, ihnen fiktive Gestalt verleihen kann. Wie Hohler dies etwa im Brief an das biblische Brüderpaar (»Lieber Kain, lieber Abel!«), das er 1993 in Dubrovnik, in Vukovar oder in Osijek verortet, oder in »Drei Gebete« (1991), in denen die Religiosität dran glauben muss, beispielgebend nachweist. Voraussetzungen für Meisterschaft in der kurzen Form sind indessen Virtuosität und sprachliche Konzision. Beide bringt der Schweizer Autor in der Hohler-Form als narratives Feuerwerk zum Zünden. In der Titelgeschichte tritt der Teufel bei Bellinzona als Autostopper auf. Er ist auf dem Weg nach Rom, um den Papst zu erschrecken und wird schließlich von einem sanften Langhaarigen mitgenommen. »Zusammen sind wir stärker«, meint der Fahrer, von dem erst am Schluss bemerkt wird, dass er Jesus heißt.

Als wichtiges Gestaltungsmerkmal der kurzen Form tritt das Paradoxe oder Absurde als jähe Wendung oder skurriler Zufall hinzu, als etwas, das die Idylle in ihrer Fadenscheinigkeit sichtbar macht und das Selbstverständliche seiner Plausibilität beraubt. Noch einmal Hohler als Poetik-Dozent: »Das Paradoxe ist häufig nichts anderes als eine Warnflagge, die geschwenkt wird, wenn wir das Gelände des Normalen betreten: Pass auf, es ist nicht so einfach! Der Boden ist vermint.«

Franz Hohlers Werk ist vielfach als preiswürdig erachtet worden, zuletzt erhielt er 2014 den in zweijährigem Turnus verliehenen Johann-Peter-Hebel-Preis. Eine passende Würdigung. Wenn jemand die von Hebel mitbegründete Tradition der Kalendergeschichte in die Postmoderne hinübergerettet hat, so der realistische Fantast aus Zürich mit seinen geschliffenen Textkunststücken. Sein »Autostopper« jedenfalls ist ein mit Geschichten prall gefülltes Schatzkästlein. Dem alemannischen Hausfreund und dessen nach »Kannitverstan« vielleicht berühmtester Kalendergeschichte »Unverhofftes Wiedersehen« - laut Ernst Bloch »die schönste Geschichte der Welt« - setzt Hohler in »Noch eine Liebesgeschichte« ein zu Herzen gehendes Denkmal. Auch dem schnöden Ballsport wird noch ein Kranz geflochten; in »Das Fußballspiel« (1979) geht es um ein Match der Lebenden gegen die Toten, bei dem das erzählende Ich der einzige Zuschauer bleibt. Nicht nur diese makabre Parabel verzehrt sich also nach den Lesern. Denn, so Hohler in seiner Vorlesung, die »kurze Geschichte ist immer allein, und sie sehnt sich immer nach Gesellschaft, und ihre Gesellschaft, das sind Sie und ich.« Kurz gesagt: Leser machen Texte zu Geschichten. Mit dem »Autostopper« bringen sie sich selbst in Fahrt.

Franz Hohler: Der Autostopper. Die kurzen Erzählungen. Luchterhand. 768 S., geb., 19,99 €.

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