EU plant Krisengipfel zu Flüchtlingen am Donnerstag

EU will Seenotrettung deutlich ausbauen / UNO-Generalsekretär: Mittelmeer ist »weltweit tödlichste Route« von Flüchtlingen / Flüchtlingskommissar fordert legale Einreisemöglichkeiten

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Update 19.00 Uhr: Die Europäische Union will nach der jüngsten Flüchtlingstragödie im Mittelmeer ihre Aktivitäten zur Seenotrettung deutlich ausbauen. Es gebe Pläne, die doppelte Zahl von Rettungsschiffen und das doppelte Budget einzusetzen, berichtete Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) nach einem EU-Krisentreffen am Montag in Luxemburg. Die Innen- und Außenminister der 28 EU-Länder waren dort außerplanmäßig zusammengekommen, nachdem sich vor der libyschen Küste in der Nacht zum Sonntag das wohl schlimmste Flüchtlingsdrama der europäischen Geschichte ereignet hatte.

Die EU hatte Ende vergangenen Jahres einen Grenzeinsatz namens Triton ins Leben gerufen, der bisher ein Budget von lediglich drei Millionen Euro im Monat hat. Zuvor hatte Italien ein Jahr lang umfangreiche Rettungseinsätze im Rahmen seines Mare -Nostrum-Programms unternommen. Diese Operation hatte Rom jedoch eingestellt - nicht zuletzt wegen des Drucks Deutschlands und anderer nördlicher Länder, die in ihm Anreize für Migrations- und Schlepperbewegungen sahen. Mit ihrem Ja zur verstärkten Seerettung vollzieht die deutsche Bundesregierung nun eine Schwenkbewegung.

De Maizière unterstrich allerdings, dass zum Ausbau der Seerettung zwingend auch ein verstärkter Kampf gegen Schleuserbanden gehöre. »Das gehört zu den widerlichsten Verbrechen, die man sich vorstellen kann.« Auch hierzu gebe es auf EU-Ebene Beratungen, erläuterte er. Laut einem Vorschlag der EU-Kommission könne unter anderem die Zerstörung von Booten ins Auge gefasst werden, ähnlich wie es im Kampf gegen Piraten vor der Küste Somalias geschehe. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verwies darauf, dass Transitländer wie Libyen stabilisiert werden müssten, damit Schleuserbanden sich dort nicht weiter ausbreiten könnten.

Die EU-Kommission schlägt nach Angaben der Bundesregierung auch vor, im Rahmen eines Pilotprojektes 5.000 schutzbedürftige Flüchtlinge nach Europa zu bringen und sie auf die einzelnen Länder aufzuteilen. »Das ist ein bescheidener Beginn«, räumte de Maizière ein. Deutschland werde sich beteiligen; in Sachen Flüchtlingsaufnahme brauche die Bundesrepublik in Europa »von niemandem Nachhilfe«.

Wie sie im Detail weiter vorgehen, wollen die 28 EU-Regierungen am kommenden Donnerstag auf höchster Ebene besprechen. Der EU-Ratspräsident Donald Tusk hat die Staats- und Regierungschefs zu einem Sondergipfel nach Brüssel einbestellt. »So wie jetzt kann es nicht weitergehen«, unterstrich Tusk. Obgleich es keine schnellen Patentlösungen gebe, erwarte er substanzielle Beiträge der Regierungen und der europäischen Institutionen. Bereits am Mittwoch wollen die EU-Kommission und Vertreter der Afrikanischen Union in Brüssel über Migrationsfragen beraten.

Update 16.55 Uhr: Nach den jüngsten Flüchtlingsdramen im Mittelmeer hält die Europäische Union am Donnerstag einen Krisengipfel in Brüssel ab. Dies teilte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Montag mit. In den vergangenen Tagen waren hunderte Menschen auf der Flucht in die Europäische Union im Mittelmeer

Update 16.40 Uhr: Warum Flüchtlingen helfen, wenn man auch die Symptome bekämpfen kann? Angesichts hunderter ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer erwägt Italien Angriffe gegen die Schlepper in Libyen. »Attacken gegen die Banden des Todes, Attacken gegen Menschenschmuggler gehören zu den Überlegungen«, sagte Ministerpräsident Matteo Renzi am Montag in Rom. Zwar gehe es nicht um einen breiten »Militäreinsatz«, sondern um eine »gezielte Intervention«. Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums seien mit einbezogen, um die Möglichkeit zu prüfen.

Außenminister Paolo Gentiloni hatte Angriffe auf Schleuser schon vor einigen Tagen angeregt. In einem Zeitungsinterview sagte er, es gehe um »gezielte Anti-Terror-Aktionen«. Diese könnten beispielsweise im Rahmen der Angriffe gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) oder gegen Menschenschmuggler erfolgen.

Update 15.30 Uhr: Unter dem Eindruck der Flüchtlingstragödien im Mittelmeer sind die EU-Außenminister am Montag in Luxemburg zusammengekommen. Die Politiker gedachten in einer Schweigeminute der Opfer der jüngsten Bootsunglücke. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte, es werde keine einfache Lösungen geben. Am Nachmittag wollten die Innenminister der 28 Mitgliedsstaaten zu den Beratungen in Luxemburg hinzukommen.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte vor dem Ministertreffen in Luxemburg: »Mit Rücksicht auf den Tod von bis zu 950 Menschen gestern im Mittelmeer können wir nicht zur Tagesordnung übergehen.« Das Bemühen um die Rettung von Menschenleben müsse an vorderster Stelle stehen. Steinmeier verlangte, den Blick stärker auf Afrika zu richten. Die EU müsse im zerfallenden Transitland Libyen die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit unterstützen.

Unter dem Eindruck der bislang größten Bootstragödie im Mittelmeer wächst der Druck auf die EU, ein wirksames Seenotrettungsprogramm nach dem Vorbild des eingestellten »Mare Nostrum« zu starten. Das Bundesinnenministerium signalisierte am Montag, einer besseren Seenotrettung unter bestimmten Bedingungen zuzustimmen. Thomas de Maizière hatte eine Weiterführung zunächst abgelehnt.

Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer, sprach sich auch dafür aus, den Menschen aus Afrika legale Wege nach Europa zu öffnen. In den EU-Auslandsvertretungen sollten Anlaufstellen für humanitäre Visa eingerichtet werden.

Update 15.20 Uhr: Nach der jüngsten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer hat der tschechische Außenminister Lubomir Zaoralek eine Stabilisierung der Herkunftsländer der Migranten angemahnt. In diesen Staaten müsse die Politik ansetzen, sagte der Sozialdemokrat am Montag im tschechischen Fernsehen. »Wir müssen einen Weg finden zu verhindern, dass sich Menschen auf solchen Schiffen auf den Weg machen.« Zugleich warnte Zaoralek: »Wenn wir den Schleppern ihre Arbeit erleichtern und von Bord gegangene Flüchtlinge entgegennehmen, wird daraus für sie ein noch besseres Geschäft.« Nach dem Kentern eines Flüchtlingsschiffs vor Libyen am Wochenende werden Hunderte Tote befürchtet.

Update 13.30 Uhr: Im Mittelmeer ist erneut ein Flüchtlingsschiff mit hunderten Menschen in Seenot geraten. An Bord seien laut einem Hilferuf mehr als 300 Menschen, teilte am Montag die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Genf mit. Mindestens 20 Menschen seien den Angaben zufolge bereits tot.

Der Hilferuf ging laut IOM in ihrem Büro in Rom ein. »Der Anrufer sagte, dass mehr als 300 Menschen auf seinem Boot sind und dieses bereits sinkt.« Es gebe bereits »mindestens 20« Tote.

Erst am Sonntag waren nach einem Schiffsunglück im Mittelmeer vermutlich etwa 900 aus Afrika kommende Flüchtlinge ertrunken. Es war die bisher vermutlich schlimmste Katastrophe im Mittelmeer. In Luxemburg kamen am Montagvormittag die EU-Außenminister zusammen, am Nachmittag soll ein gemeinsames Krisentreffen mit den Innenministern folgen.

Update 12.20 Uhr: Wenige Meter vor der Küste der griechischen Touristeninsel Rhodos sind nach übereinstimmenden Medienberichten mindestens drei Flüchtlinge ertrunken, darunter ein etwa vierjähriges Kind. Sie waren mit etwa 200 weiteren Menschen an Bord eines Kutters, der am Montagvormittag in einem felsigen Bereich vor dem beliebten Badestrand Zefyros der Stadt Rhodos auf Grund lief, wie das staatliche griechische Fernsehen (Nerit) berichtete. Augenzeugen berichteten, die Menschen versuchten schwimmend die Küste zu erreichen. Nach Angaben der Küstenwache wurden bislang 80 Menschen gerettet. Wie viele Migranten insgesamt an Bord waren, war demnach zunächst unklar. Über die Ägäis versuchen Schleuserbanden immer wieder, Migranten und Flüchtlinge von der türkischen Küste nach Westeuropa zu bringen.

Überlebender: Über 950 Opfer befürchtet

Berlin. Wenn sich die Berichte von Augenzeugen bestätigen, sind bei dem Kentern des Kutters mit Flüchtlingen in der Nacht zum Sonntag womöglich noch mehr Menschen ums Leben gekommen als bislang angenommen. Wie die Staatsanwaltschaft von Catania auf Sizilien am Sonntag mitteilte, sprach ein Überlebender des Unglücks aus Bangladesch von 950 Menschen an Bord des Flüchtlingsschiffes, das in der Nacht zum Sonntag rund 110 Kilometer vor der Küste Libyens gekentert war. Unter ihnen seien 200 Frauen und 50 Kinder gewesen.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hatte unter Berufung auf die Aussage von Überlebenden angegeben, an Bord des 20 bis 30 Meter langen Fischkutters seien rund 700 Menschen gewesen. Lediglich 28 Flüchtlinge konnten demnach gerettet werden, dennoch suchten Helfer weiter nach Überlebenden. UNHCR-Sprecherin Carlotta Sami sagte dem TV-Sender RAInews24, sollten sich diese Angaben bestätigen, wäre es das »schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde«. Das bislang schwerste Unglück ereignete sich im September, als vor der Küste von Malta schätzungsweise 500 Flüchtlinge starben.

Das jüngste Unglück vor Libyen wirft erneut ein Schlaglicht auf die EU-Flüchtlingspolitik. 2014 war die italienische Hilfsmission »Mare Nostrum« eingestellt worden. Hintergrund war ein Streit in der EU, ob solche Missionen ungewollt noch mehr Flüchtlinge zur Überfahrt ermutigen. Nun wird in der Europäischen Union abermals über die Flüchtlingspolitik diskutiert. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini setzte die Flüchtlingsfrage kurzfristig auf die Tagesordnung des Außenministerrates am Montag in Luxemburg. Anlässlich der Beratungen wurden Forderungen nach einer humaneren und an den Wurzeln ansetzenden Flüchtlingspolitik laut.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte die Weltgemeinschaft am Sonntag (Ortszeit) auf, die Flüchtlingskrise gemeinsam zu schultern. Ban rief »die internationale Gemeinschaft zu Solidarität und Lastenverteilung angesichts dieser Krise« auf. Das Mittelmeer habe sich zur »weltweit tödlichsten Route« von Flüchtlingen entwickelt, ließ der UN-Generalsekretär in New York erklären. Die Regierungen müssten nun nicht nur die Rettungseinsätze auf hoher See verbessern, sondern auch »das Asylrecht für die wachsende Zahl von Menschen sicherstellen«. UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres forderte einen »robusten Seerettungseinsatz« und legale Einreisemöglichkeiten in der EU.

Tusks Sprecher sagte am Sonntagabend, der EU-Ratspräsident erwäge die Abhaltung eines EU-Krisengipfels und führe dazu derzeit Gespräche mit den Staats- und Regierungschefs. Zuvor hatte bereits Italiens Regierungschef Matteo Renzi einen solchen Gipfel gefordert. Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy warnte, Europa beschädige seine Glaubwürdigkeit, wenn es solche Flüchtlingstragödien nicht verhindere.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) forderte ein grundlegendes Umsteuern bei der europäischen Flüchtlingspolitik. »Wir können nicht an dem Symptom weiter herumdoktern, sondern müssen erkennen, dass wir ein Einwanderungsgebiet sind und eine legale, geordnete Einwanderungspolitik benötigen«, sagte Schulz dem »Kölner Stadt-Anzeiger«. Schulz äußerte scharfe Kritik vor allem an den Mitgliedsstaaten: »Nichts bewegt sich. Und das liegt nicht an der EU, sondern am Unwillen der Hauptstädte der EU-Mitgliedsstaaten. Nicht aller, aber einiger«, sagte er. »Wie viel muss eigentlich noch passieren, damit es dort endlich begriffen wird?«

Schulz forderte zudem konkrete Maßnahmen. So sollte mit der Regierung der Nationalen Einheit in Libyen eine Regelung getroffen werden, um »die Menschen davon abzuhalten, sich in ein unkalkulierbares Risiko zu stürzen«. Man benötige einen effektiven Küstenschutz, um die organisierten Schleppernetzwerke zu bekämpfen. Man müsse an die Ursachen der Flüchtlingskatastrophen heran und dies bedeute auch, so Schulz, dass den gescheiterten Staaten in Afrika Mittel zur Verfügung gestellt würden, damit die Menschen nicht das Land verlassen müssten. Agenturen/nd

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