- Politik
- 9/11 - Fünf Jahre danach
Das Trauma des Mike Benfante
New Yorks neue Zeitrechnung und die 9/11-Angst
Panikattacke im 81. Stockwerk
Erst der Anruf seiner Freundin, die ihm per Handy aufgelöst mitteilte, was sie im Fernsehen live sah, ließ ihn »nüchtern« werden, erzählt er. Etwa acht Stockwerke über ihm begann dann ab 8.46 Uhr sein Inferno. »Als das Flugzeug einschlug, hörte ich einen Mann schreien, so wie ich noch nie jemand in meinem Leben schreien hörte. Das gesamte Gebäude bebte.« Nach einer kurzen Besprechung mit Kollegen wird beschlossen, den Turm umgehend zu verlassen. Dann eine erste Panikattacke vor den Aufzugtüren im 81. Stockwerk: sie klemmen. Also auf die Nottreppe. Im 68. Stockwerk sah Benfante eine Gruppe von Frauen, die unschlüssig und wie gelähmt dastanden. Sie deuteten hinter sich - auf eine Frau im Rollstuhl, Tina Hansen. Mike Benfante und sein Kollege John Cerqueira begannen, die Querschnittsgelähmte aus ihrem Rollstuhl zu hieven und nach unten zu tragen. »Etwa im 31. Stockwerk sah ich einen Feuerwehrmann auf dem Rücken liegen, er hatte einen Herzinfarkt. Wir müssen 50, vielleicht auch 100 Feuerwehrleute passiert haben, die uns immer wieder aufforderten, Ruhe zu bewahren.«
Mittagessen mit den Lebensrettern
Fünf Jahre später sehe er immer noch die Gesichter der Retter, die sich nach oben in die Todesfalle bewegten, während er und Cerqueira mit Tina Hansen nach unten in die Sicherheit abstiegen. Die drei treffen sich seitdem jede Woche zum Mittagessen, »und jedes Mal kommen Panik und Todesangst wieder durch«, sagt Benfante, während er sich eine Träne aus dem Auge wischt.
Auf der Eagle Rock Reservation in Montclair wird heute eine kleine Gedenkfeier stattfinden. Der Bürgermeister hat die örtlichen Feuerwehrleute, Vertreter der Polizei und des Krankenhauses sowie Angehörige von Opfern eingeladen. Auch Benfante wird mit dabei sein. Auf einer bescheidenen Gedenktafel im Zentrum dieses 35 000-Seelen-Städtchens unweit von New York sind die Namen der Montclairer Opfer verewigt. Michael Collins, Caleb Dack, Emeric Harvey, Scott Johnson, Howard Kestenbaum, Robert Murach, David Lee Pruim, Ron Ruber und Michael Steward - sie alle arbeiteten im »World Trade Center«.
Der 11. September ist nicht nur bei den Angehörigen der Opfer und bei den unmittelbar Überlebenden zu einem unauslöschbaren Mal geworden, das sich in die Gedanken und Gefühle eingefressen hat und täglich zum Vorschein kommt. Auch viele New Yorker leiden unter einem Phänomen, das Psychologen populär als »9/11-Angst« und wissenschaftlich als »posttraumatisches Stress-Syndrom« bezeichnen. Es zeigt sich in Gedächtnisverlust, Nervosität, Schlafstörungen und geht bis hin zu schweren Suchterscheinungen, Depressionen und Selbstmordgedanken. New York galt zwar schon vor »9/11« als Hauptstadt der Neurosen. Doch die Auswirkungen der Terroranschläge, die ein Drittel der Einwohner direkt betrafen, verschärften die inneren Balanceprobleme der Menschen in den fünf Stadtteilen Manhattan, Brooklyn, Queens, Staten Island und Bronx. Die »New York Times« veröffentlichte jetzt Umfrageergebnisse, wonach fast ein Drittel der Bewohner auch heute noch Tag für Tag an den 11. September denkt. Ebenso viele geben an, sie hätten auch fünf Jahre danach noch Probleme, zurück zu einem geregelten Alltag zu finden. 69 Prozent sagten, sie seien »sehr besorgt« über einen möglichen neuen Anschlag. »Vor 9/11« und »Nach 9/11« ist in der Stadt am Hudson-Fluss zur zusätzlichen Zeitrechnung geworden.
Geschädigte mussten viel zu lange warten
Außerhalb von New York haben sich der Umfrage zufolge die meisten Amerikaner der »neuen Normalität«, die dem 11. September 2001 folgte, angepasst. Die Ängste vor allem der Land- und Vorstadtbewohner in den USA seien »weniger offensichtlich und persönlich«. Nur 22 Prozent gaben an, sie seien »sehr besorgt«. Bemerkenswert ist, dass der 11. September die New Yorker keineswegs in die rechte Ecke getrieben hat, aus der nach Rache gerufen wird. Davon zeugten nicht nur die großen Friedens- und Antikriegsdemonstrationen, die in den vergangenen Jahren mehrfach jeweils bis zu einer halben Million Menschen anzogen, oder etwa die teilweise militanten Proteste gegen den Republikanerparteitag mitten in der Stadt im Jahr 2004. Einer Umfrage der Quinnipiac University zufolge ist und bleibt New York eine Hochburg der Demokraten, der Linksliberalen und der Restlinken. George Bush hat in der Stadt, die am meisten unter den Terroranschlägen zu leiden hatte und hat, nach wie vor nur eine Zustimmungsrate von 25 Prozent - und das, obwohl Bush und die Republikaner im Wahlkampf versprechen, die Anschlagsgefahr zu mindern. Das Kalkül ist leicht zu durchschauen.
Hinzu kommen skandalträchtige Nachrichten. So berichtete die »New York Times« dieser Tage auf ihren Titelseiten zwei Mal ausführlich über den Gesundheitszustand von Rettungskräften und Freiwilligen, die sich damals tage- und nächtelang am »Ground Zero« durch Staub, Schutt, Asche und unidentifizierbare Giftstoffe gegraben haben, um Überlebende zu finden. Mehr als die Hälfte der Betroffenen, rund 40 000, leiden heute am so genannten 9/11-Husten, viele von ihnen schwer. Die Washingtoner Regierung hat erst im Februar dieses Jahres eine Zentralstelle für die Geschädigten eingerichtet und, geschlagene viereinhalb Jahre nach den Anschlägen, zum ersten Mal Geld für Versorgung und Behandlung zur Verfügung gestellt. »Für viele«, schloss die »Times«, »kommt die bundesstaatliche Hilfe zu spät.« So ist zu erwarten, dass die Zahl der Lungenkrebserkrankungen in und um New York in den kommenden Jahren nach oben schnellt.
Der Montclairer Überlebende Mike Benfante, der am 11, September 2001 dank seiner Beherztheit zum Lebensretter wurde, hat keine Symptome, die auf Lungenprobleme hinweisen. Er habe seit dem Abstieg aus dem 81. Stockwerk allerdings immer wieder Rückenschmerzen, erzählt er. Tina Hansen, die ihm ihr Leben verdankt, schenke ihm immer wieder Gutscheine für lindernde Massagen. Er hoffe, dass ihm der »9/11-Husten« erspart bleibe, sagt Benfante. Wie viele andere war er nach dem Einsturz des zweiten Turms durch teilweise meterhohen Staub gewankt und hatte minutenlang Krebs erregende Partikel eingeatmet.
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