Verbrechen eines Verbündeten

Georg Fülberth über den Völkermord an den Armeniern und den deutschen Umgang damit

  • Georg Fülberth
  • Lesedauer: 4 Min.
Vor 100 Jahren geschah das grausige Massaker an 1.5 Millionen Armeniern durch osmanische Truppen. Die Führung des Deutschen Reiches wusste davon, doch sie unternahm nichts dagegen.

Über den Völkermord der osmanischen Regierung an den Armenierinnen und Armeniern im Ersten Weltkrieg war die Führung des Deutschen Reiches informiert. Sie schritt nicht dagegen ein. Es handelte sich um die Tat eines Waffenbruders, dem man nicht in den Arm fallen mochte.

Zur Erklärung reicht das aber nicht völlig aus. Schon in den vorangegangenen Jahrzehnten hatten sich in Europa »Pan-Bewegungen« ausgebreitet, die die Neuordnung des Kontinents nach »völkischen« Gesichtspunkten und die Herstellung ethnisch homogener Staaten forderten. Völkermord gehörte noch nicht zu den von ihnen offiziell propagierten Mitteln. Der Erste Weltkrieg aber hatte ohnehin eine Zerstörung bis dahin gültiger Normen mit sich gebracht, so dass unter den Gräueln (darunter der Einsatz von Giftgas im Feld) oft nicht mehr unterschieden wurde. Hier aber handelte es sich nicht um eine Aktion gegen Soldaten, sondern gegen Zivilistinnen und Zivilisten. Wer stolz auf seine deutsche Kultur war, konnte darauf verweisen, dass es schon 1894 bis 1896 osmanische Massaker gegen die Armenier gegeben habe: Das seien eben fremde Sitten und Gebräuche, an die ohnehin nicht die eigenen Normen anzulegen seien, hieß es damals. Dazu musste man aber die Brutalitäten gegen die Hereros und Nama von 1904 verdrängen. 1914 hatten deutsche Soldaten in Belgien Kriegsverbrechen begangen. Berichte darüber waren als Feindpropaganda abgetan worden, und in dieser Nacht erschienen denen, die das alles nicht so genau wissen wollten, ohnehin alle Katzen grau. Nach Versailles 1919 griff die deutsche Wehleidigkeit um sich. Hier gab es kein Interesse an den Verbrechen eines einstigen Verbündeten.

Bekanntlich wurde nach 1945 der deutsche Völkermord an den Jüdinnen und Juden, wenngleich er nicht geleugnet werden konnte, nach Möglichkeit beschwiegen. Der von Fritz Bauer 1963 in Gang gebrachte Auschwitz-Prozess war nicht etwa schon die Wende, sondern bahnte sie nur an: von Peter Weiss‘ Dokumentationsdrama »Die Ermittlung« 1965 bis zur Ausstrahlung des Holocaustfilms 1978. (Erst seitdem ist dieser Begriff in den allgemeineren hiesigen Sprachgebrauch eingegangen.) Das war ein sich über Jahrzehnte hinziehender Prozess, und er war nicht einlinig. Mit der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 schien er abgeschlossen.

Aber im selben Jahr begann eine Gegenbewegung: Helmut Kohl nötigte Ronald Reagan zu einem Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, wo auch Angehörige der Waffen-SS liegen. Ein Jahr später begann ein Historikerstreit zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas. Seit der Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen 1983 und der sich abzeichnenden finalen Schwächung der UdSSR schien eine Wiedervereinigung nicht mehr völlig ausgeschlossen, und es stellte sich die Frage nach der moralischen Legitimation eines etwaigen neuen Gesamtdeutschlands angesichts seiner Schuld. In dieser Situation bezweifelte Nolte die Einzigartigkeit des Völkermords an den Jüdinnen und Juden. Eine vorangegangene »asiatische Tat« sei der türkische Genozid an den Juden gewesen. Dass Habermas‘ Position sich schließlich durchsetzte, erwies sich als der wirksamere Beleg für eine deutsche Läuterung. Mit ihr rechtfertigte Außenminister Joschka Fischer 1999 den völkerrechtswidrigen Angriff auf Jugoslawien: So solle ein zweites Auschwitz verhindert werden.

Zugleich setzte die Bundesregierung die Schweigepolitik gegenüber dem osmanischen Genozid fort. Vordergründig konnte dies als eine Form der nationalen Bußfertigkeit missverstanden werden, frei nach Bertolt Brecht: »Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von der meinen.« In Wirklichkeit war es die Fortsetzung der »Realpolitik« des wilhelminischen Deutschland gegenüber einem Verbündeten: Die Türkei ist NATO-Partnerin.

Aber man ist inzwischen stärker geworden und damit flexibler. Joachim Gauck hat – in der Tradition Fischers – die deutsche Schuld zum moralischen Instrument einer offensiveren Außenpolitik gemacht. Er soll es auch gewesen sein, der die Koalitionsparteien zur Erwähnung des türkischen Völkermords gedrängt hat. Historiographisch war das überfällig, mögen sich die Deutschen auch als die besseren Türken präsentieren.

Eine neue Gefahr wird sichtbar: die Einebnung des Holocaust in ein allgemeines Völkermordszenario. Er bleibt aber einzigartig als das größte dieser Verbrechen.

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