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Westjordanland: Wohnungsbau zusätzlich zum Landraub
Wie die israelischen Behörden mit dem Bau illegaler jüdischer Siedlungen schleichend die Annexion vorbereiten
Es geht um weitaus mehr als neuen Wohnraum für jüdische Siedler. Die israelische Regierung vollzieht die nächsten, vielleicht entscheidenden Schritte zur Annexion des Westjordanlands. Mit der angekündigten Genehmigung zum Bau der sogenannten Siedlung East 1 (kurz: E1) soll nahe Jerusalem ein gewaltiger, illegaler Wohnkomplex mit rund 3500 Wohneinheiten entstehen, der eine Schneise in das von Israel besetzte Gebiet schlagen soll. Das Baugebiet würde die bereits existierende illegale Siedlung Ma’ale Adumim, die mit ihren inzwischen rund 40 000 Bewohnern seit 1991 als Stadt zählt und sieben Kilometer östlich von Jerusalem liegt, mit West-Jerusalem verbinden. Die Folge wäre eine De-facto-Zweiteilung des Westjordanlands in einen nördlichen und einen südlichen Teil, was die sogenannte Zweistaatenlösung wohl endgültig unmöglich machen würde. Nicht ganz unpassend hat die E1-Siedlung daher auch den Beinamen »Doomsday« erhalten: die Weltuntergangssiedlung.
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IGH-Richter fordern Ende der Besatzung
Die Bebauungspläne gehen zurück auf den Beginn der 1990er Jahre, unter dem 1995 erschossenen Premierminister Jitzhak Rabin. Das Projekt lag seit 2005 mehr oder weniger auf Eis aufgrund internationaler Kritik, auch aus den USA, denn allen war schon damals klar: Die Realisierung würde die Gründung eines palästinensischen Staates entscheidend be-, wenn nicht verhindern. Dennoch stellte sich niemand in Europa dem illegalen Siedlungsbau im Westjordanland und Ost-Jerusalem je entschieden entgegen. Man hat die verschiedenen israelischen Regierungen einfach gewähren lassen, wohlwissend, dass die Ansiedlung von Staatsbürgern einer Besatzungsmacht in besetzten Gebieten qua Völkerrecht verboten ist.
Muss man wirklich immer wieder daran erinnern, dass alle israelischen Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem nach internationalem Recht schlicht illegal sind, weil ihr Bau gegen die IV. Genfer Konvention vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verstößt? Und dass der Internationale Gerichtshof (IGH), das höchste Gericht der Vereinten Nationen, mithin eine richterliche Instanz mit globalem Anspruch, diese Tatsache im vergangenen Jahr bekräftigt hat? Völlig unzweideutig hatten die IGH-Richter erklärt, dass die Präsenz Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten rechtswidrig sei und »so schnell wie möglich« beendet werden müsse. Was ist seitdem passiert? Nichts.
In dem von Israel besetzten Westjordanland und Ost-Jerusalem leben nach offiziell zugänglichen Quellen derzeit zwischen 600 000 und 750 000 jüdisch-israelische Siedler in wenigstens 290 Siedlungen und sogenannten Außenposten, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte dort als eklatanter Verstoß gegen völkerrechtliche Bestimmungen angesiedelt worden sind – unter den Augen der Weltöffentlichkeit.
Dabei hätte es genug Druckmittel gegeben, diese Entwicklung zu verhindern, und es gibt diese natürlich auch heute noch: Sanktionen gegen die direkt verantwortlichen Entscheidungsträger für den Siedlungsbau; Sanktionen gegen die in den Siedlungen wohnenden Personen; Sanktionen, die das Funktionieren des israelischen Staats beeinträchtigen; massive Handelseinschränkungen; Exportstopp von Gütern, die der Aufrechterhaltung des Besatzungsregimes dienen, insbesondere Waffen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, und die Existenz des Staates Israel wäre dadurch mit Sicherheit nicht in Gefahr.
Bloße Ankündigungen und verbale Drohungen reichen nicht, wie jüngst die Aussagen von Deutschlands Außenminister Johann Wadephul bei seinem Besuch in Israel: »Jegliche Annexionsfantasien, sei es für Gaza oder für das Westjordanland, die auch von Teilen der israelischen Regierung hervorgebracht werden, lehnen wir klar ab.« Sie würden von Deutschland nicht anerkannt werden, erklärte Wadephul. Solche Warnungen sind nicht viel wert, wenn gleichzeitig Bundeskanzler Merz den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu, einen per internationalem Haftbefehl gesuchten mutmaßlichen Kriegsverbrecher, nach Berlin einzuladen bereit ist. Und es ist auch nicht glaubhaft, dass die deutsche Bundesregierung tatsächlich Sanktionen gegen Israel verhängen würde.
Die europäischen Regierungen und die Europäische Union müssen ihre Zurückhaltung endlich aufgeben, Deutschland seine Staatsräson aussetzen, umgehend, denn die israelische Regierung will zum x-ten Mal Tatsachen im Westjordanland schaffen, die sich kaum wieder zurückdrehen lassen. Bereits Ende Mai hatte das israelische Sicherheitskabinett den Bau einer Straße beschlossen, die ausschließlich palästinensischen Bewohnern vorbehalten bleiben soll. Die südlich des Entwicklungsgebiets E1 zu bauende Straße soll palästinensische Dörfer im Norden des Westjordanlands mit denen im Süden verbinden und den palästinensischen Verkehr von der Route 1 umleiten. Infolgedessen würde die Straße zwischen Jerusalem und Ma’aleh Adumim in erster Linie den jüdischen Einwohnern dienen, berichtete damals die israelische Tageszeitung »Haaretz«.
Die Regierung bezeichnete den Beschluss als »bahnbrechend«, so die Zeitung, weil er »den Verkehr verbessern, die Verkehrsverbindungen zwischen Jerusalem, Ma’aleh Adumim und dem östlichen Binjamin [im Westjordanland] stärken und die weitere Siedlungsentwicklung im Gebiet E1 ermöglichen« werde. Ein Apartheid-System im Straßenverkehr also, mit einem klaren Ziel: Die Verbindung illegaler jüdischer Siedlungen im Westjordanland mittels der Schließung von Baulücken zwischen ihnen, sodass ununterbrochene und ausgreifende jüdische Siedlungsgebiete entstehen, die kaum noch aufzubrechen sind, sollte es jemals auch nur zum Versuch kommen, einen palästinensischen Staat aufbauen zu wollen. Wenn das nicht als Siederkolonialismus angesehen werden kann, was dann?
Palästinensisches Land wird zu israelischem Beton
So verschwindet nach und nach palästinensisches Acker- und Weideland unter Beton. Stattdessen entstehen dort jedoch keine Schulen für palästinensische Kinder oder Krankenhäuser für palästinensische Patienten, sondern Wohnhäuser für Menschen wie den rechtsextremen ultraorthodoxen israelischen Finanzminister Bezalel Smotrich, der in der Annexion des Westjordanlands den Kern seiner politischen Tätigkeit erkannt hat und selbst zeit seines Lebens in illegal errichteten Siedlungen wohnt: Geboren in Haspin, einem Ort auf den zu Syrien gehörenden besetzten Golanhöhen; aufgewachsen in der nördlich von Jerusalem liegenden religiösen Siedlung Beit El, ideologische Hochburg des Gusch Emunim, einer religiös-zionistischen Erneuerungsbewegung, die die Gründung des Staates Israel als Teil eines Erlösungsprozesses begreift; derzeit wohnhaft in Kedumim, einer Siedlung westlich von Nablus.
Gerne zieht es auch messianisch angehauchte Jüdinnen und Juden US-amerikanischer Provenienz nach Judäa und Samaria, wie Anhänger der zionistischen Bewegung das von Israel besetzte Westjordanland nennen und auch im offiziellen israelischen Sprachgebrauch so bezeichnet wird. Die Deutsche Welle interviewte 2010 eine Frau, Aliza Herbst, die 1979 aus Texas ins Westjordanland übergesiedelt war und sich in Ma’ale Adumim niedergelassen hatte. Wie selbstverständlich nahm diese sich das Recht der Niederlassung im »Gelobten Land« der Bibel heraus und ignoriert die Rechtsansprüche der palästinensischen Bewohner auf dieses Land. Um die Palästinenser loszuwerden, präsentiert sie eine Lösung, die quasi vor der Haustür liege: »Es gibt doch einen Palästinenserstaat – Jordanien.«
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