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Der Lockruf Asiens

Martin Leidenfrost über seine etwas ernüchternde Suche nach ungarischer Romantik

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

Lange wusste ich nicht, durch welches Prisma ich mir die Rückbesinnung vieler Ungarn auf ihre ungeklärte asiatische Herkunft ansehen sollte. Da ist gleich um die Ecke eine bücherverrückte europäische Hochkultur auf der Basis einer nichteuropäischen Sprache entstanden, nun aber werden Ortsschilder in Runenschrift aufgestellt, die Volksmassen huldigen einem Kult »hunnischer« oder »turanischer« Steppenreiter, und Ministerpräsident Viktor Orbán erklärt: »Es ist von größter Bedeutung zu begreifen, wie die Systeme in China, Singapur, Türkei und Russland funktionieren. Die liberale Demokratie ist am Ende. Sie garantiert den ungarischen Familien keinen Wohlstand und keinen Schutz der nationalen Interessen mehr. Der ungarische Staat wird sich nicht weiter an liberale Werte halten.«

Später versank ich eine Nacht lang in Videoclips des wundertraurigen ungarischen Volksliedes, das mir von meinem glanzlos gescheiterten Ungarisch-Studium geblieben war: »Ich habe gehört, mein Engelchen, das Pferd ist mit dir gestürzt. Du hast dir die Hand gebrochen, womit umarmst du mich jetzt?« Aus dem einen Lied entfaltete sich online die Bandbreite ungarischer Kultur: Während zügellose Rösser durchs Pusztagras galoppierten, saß ein Pusztaknabe melancholisch unter einer historischen Landkarte von Großungarn; ein Glitter-Zigeuner fiedelte vor den Wespentaillen weißer Geigerinnen; die Hände fischweibmäßig in die Hüfte gestützt, trällerte eine Trachtenblondine die Schunkelversion. Zwischen Indie-Rockern und stümpernden Wahlrednern rührte mich aber stets die Version einer jungen Sängerin, eines Teeniepopstars mit Castingshow-Hintergrund. Hien sang »A Csitári hegyek alatt« ganz schlicht, als getragene Ballade, in Klubs, bei einer Misswahl, auf Firmenfeiern. Sie hatte vietnamesische Eltern. Bei Wikipedia stand, Hiens Eltern seien verhaftet worden, »weil sie Asiaten nach Ungarn hinein geschmuggelt hatten«. Da dachte ich, das wäre meine Auskunftsperson.

»Am Fuß der Berge von Csitár«, so beginnt das Lied, »fiel schon vor langem Schnee.« Wer ein Ungar ist, kennt das Lied, Csitár würde aber niemand auf der Karte finden. Überraschung, Csitár heißt inzwischen anders und liegt in der Slowakei. Ich fuhr also über Štitáre zu Hien. Das Dorf lag naturquellenstill am Fuß der sieben Hügel hinter Nitra. Eine Verona Nagyová hatte das Lied 1914 dem Komponisten Zoltán Kodály vorgesungen. Damals war das Dorf rein ungarisch­sprachig; auch wegen »Beverly Hills«, einer Villensiedlung von aus Nitra zugezogenen Städtern, sprechen nur noch 27 Prozent Ungarisch. Die fesche rothaarige Bürgermeisterin erzählte: »Jedes zweite Wochenende kommt ein Autobus aus Ungarn.« - »Sind die nicht enttäuscht, wenn sie ein slowakisches Dorf finden?« - »Das bringt das Leben. Sie freuen sich, wenn jemand Ungarisch kann.« Die Bürgermeisterin konnte Ungarisch. So wie andere Štitárer auch übersetzte sie den Titel des Liedes anders ins Slowakische, als dies auf der Gedenktafel geschehen war. Ich wies sie darauf hin. Sie glaubte mir nicht. Sie führte mich zur Tafel. »Ja gibt’s denn so was«, entrüstete sie sich, »die haben ›Berge‹ falsch übersetzt!«

Ich fuhr nach Budapest weiter. Hien, 20, hatte mich ins Thermalhotel Gellert bestellt, kurz vor ihrem Aufbruch zum Musikstudium nach Berkeley trat sie in einem Kindermusical auf. Wow, »Hiengarian!«, sie war so hübsch wie auf Youtube. Sie erzählte: »Es ist das einzige Volkslied auf meiner Set-List. Ich wollte die Herzen der Ungarn rühren.« Ich fragte sie nach dem Asiatischen im Ungarischen. Dazu fiel ihr nichts ein. »Also zwischen Vietnam und Ungarn habe ich keine Gemeinsamkeiten gefunden. Mein Herz schlägt eher europäisch. In Italien, Indien oder den USA könnte ich mich zu Hause fühlen. Vietnam hingegen finde ich sehr wild.«

Irgendwann musste ich nach der Verhaftung der Eltern fragen. Die Managerin, welche bislang nur geistesabwesend ins Smartphone getippt hatte, zuckte zusammen: »Das war ein Missverständnis.« Hien riss ihre großen Augen auf: »Wie gesagt, ein Missverständnis. Meine Eltern sind frei. Aber die Leute in Ungarn wissen das!« Dann war da noch ein Detail zum Volkslied. Die letzte Strophe führt tief in die ungarische Mythologie, die Neigung zweier Rosmarinbüsche im »runden Wald« kündigt den Liebenden das Happyend an. »Hien, warum singen Sie nie die letzte Strophe?« - »Weil ich sehr melancholisch bin.«

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