Diskrepanz zwischen Wort und Tat

Die Grünen kritisieren auf ihrem Kleinen Parteitag die europäische Austeritätspolitik, für die sie selbst mitverantwortlich sind

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 4 Min.
In der europäischen Krisen- und Flüchtlingspolitik fordern die Grünen Veränderungen. Eine deutliche Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel vermeiden sie aber.

Die Betroffenheit war groß. Zu Beginn des Kleinen Parteitags der Grünen am Samstag erhoben sich die Anwesenden in einem Restaurant im Berliner Szenestadtteil Friedrichshain von ihren Plätzen, um schweigend der im Mittelmeer umgekommenen Flüchtlinge zu gedenken. Nachdem sich alle wieder hingesetzt hatten, attackierte Parteichef Cem Özdemir in seiner Rede die europäische Flüchtlingsabwehrpolitik. »Ob diese Menschen nun politisch Verfolgte waren oder nicht, spielt keine Rolle. Es geht darum, ihr Leben zu retten«, rief Özdemir den Delegierten entgegen. Sogleich schlug er den Bogen zur verfehlten Krisenpolitik in Südeuropa. »Operation gelungen, Patient tot«, urteilte der Grünen-Vorsitzende. Man könne diese Länder nicht aus der Krise heraussparen. Dass die Grünen diese Politik der Bundesregierung bislang im Parlament meist mit großer Mehrheit unterstützt hatten, erwähnte Özdemir nicht.

Somit bleibt eine Diskrepanz zwischen Worten und Taten der Grünen. Die Delegierten verabschiedeten einen Antrag zur Europapolitik, in dem wirksame Maßnahmen für mehr Wachstum gefordert werden. Es solle vor allem in ökologische Innovationen investiert werden. Die Partei nennt das Programm für einen ökologischen Umbau der Wirtschaft »Green New Deal«. Allerdings stellt sie auch Forderungen an die griechische Regierung unter Führung der Linkspartei SYRIZA. Özdemir verlangte, dass diese die Korruption bekämpfen und die Reichen zu Steuerzahlungen zwingen müsse. Allerdings bestehen auch hier Widersprüche. Bezogen auf Deutschland hatte Özdemir zuletzt in Interviews die einst von seiner Partei geforderte Vermögensabgabe beerdigt.

In der europapolitischen Debatte flammte ein kleiner Konflikt zwischen Parteilinken und Realos nur kurz auf. Der eher linke Europapolitiker Sven Giegold hatte sich für eine schärfere Auseinandersetzung mit der Krisenpolitik der Bundesregierung ausgesprochen. Die Grünen sollten klar benennen, dass Merkels Kaputtsparpolitik gescheitert sei. »Ohne Leidenschaft und Schärfe können wir diese Debatte nicht gewinnen«, sagte Giegold. Eine Abschwächung wollten hingegen einige Realo-Politiker um die Bundestagsabgeordnete Anja Hajduk. Die Hamburgerin präferierte die Losung: »Der Euro ist noch nicht gerettet.« Hajduk forderte, dass die Grünen mehr für eine gemeinsame europäische Fiskal- und Wirtschaftspolitik tun müssten. In der Haushaltspolitik sei sowohl die Einnahme- als auch die Ausgabeseite wichtig, betonte sie. Allerdings fanden beide Änderungsanträge keine Mehrheit bei den Delegierten.

Ein zentrales Thema, bei dem es zu keinen größeren internen Konflikten kommen dürfte, ist die sogenannte Zeitpolitik der Grünen. Die Partei verspricht Familien mehr Flexibilität, um Freizeit und Arbeit unter einen Hut bringen zu können. Die von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) vorgeschlagene 32-Stunden-Woche reicht aus Sicht der Grünen nicht aus. Genau ausgearbeitete Gegenvorschläge gibt es aber noch nicht. Diese wollen die Grünen bis zu ihrem Bundesparteitag im November vorlegen.

Mit der Zeitpolitik will die Partei offenbar künftig verstärkt um Mittelschichtfamilien werben. Dies ist Teil der Strategie für den Bundestagswahlkampf 2017. Am Rande des Parteitags wurde auch darüber spekuliert, wer die Grünen dann als Spitzenkandidatenduo anführen könnte. Es gibt Überlegungen, dass sich die Stärke in der Landespolitik, wo die Grünen mittlerweile an neun Regierungen beteiligt sind, auch im Bund widerspiegeln sollte. So könnte Robert Habeck, Umweltminister in Schleswig-Holstein, Spitzenkandidat werden. Auch Parteichef Cem Özdemir, der ebenso wie Habeck aus dem Realo-Lager kommt, hat Ambitionen. Ein Dementi war von den beiden Politikern bisher nicht zu vernehmen. Allerdings können auch die Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter bei dieser Frage nicht übergangen werden. Die Grünen treten bei Bundestagswahlen immer mit einem Mann und einer Frau an der Spitze an.

Es könnte also erneut zu einer Urwahl kommen. Bei ihrem Parteitag beschlossen die Grünen hierzu Änderungen. Künftig können sich für die Spitzenkandidaten-Urwahl nur noch diejenigen bewerben, die auch Kandidat für den Bundestag sind. Auch die Unterstützung eines Kreisverbandes soll ausreichen. Bei der Urwahl vor der Bundestagswahl 2013, die Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt gewannen, hatten sich neben vier prominenten Bundespolitikern auch eine Reihe von unbekannten Grünen beworben. Die Urwahlkandidaten hatten vor der Wahl an Diskussionsrunden teilgenommen, um sich den Parteimitgliedern vorzustellen. Einige Medien berichteten damals spöttisch über die Auftritte der Basis-Grünen. Künftig will die Partei dies vermeiden und als »professionell« wahrgenommen werden. Es ist einer kleiner Schritt, mit dem sich die Grünen weiter von den Ideen ihrer Gründerzeit entfernen.

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