Auschwitz in der Schule

Die Ansprüche sind hoch. Die Ergebnisse des Unterrichts anscheinend dürftig.

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 5 Min.
Adornos «Erziehung nach Auschwitz» wurde zum Credo einer ganzen Lehrergeneration. Nach Verdrängung gehört der Holocaust heute zum Pflichtprogramm in Schulen. Das ruft neue Probleme hervor. Wie kann ein adäquater Umgang mit der Shoah im Unterricht aussehen?

Mit den zahlreichen Gedenkfeiern anlässlich der 70. Jahrestage von Kriegsende und Befreiung vom Faschismus wird erneut auch die Frage des adäquaten pädagogischen Umgangs mit der Thematik diskutiert. Nicht die Frage, ob Nationalsozialismus und Shoah in der Schule behandelt werden sollen, steht im Zentrum, sondern das «Wie».

Das war mal anders: 1966 hielt der Philosoph Theodor W. Adorno die einflussreiche Radioansprache «Erziehung nach Auschwitz». In dieser formulierte er: «Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.» Diese Sätze wurden zum Credo einer ganzen Lehrergeneration - der 68er. Zu Recht, wenn man sich vor Augen führt, wie bis in die 1960er Jahre hinein die Themen Nazifaschismus und Holocaust in den westdeutschen Schulen (die ostdeutschen seien hier ausgespart) behandelt wurden - wenn dies denn überhaupt geschah. Oft endeten die Geschichtslektionen mit dem Ersten Weltkrieg oder der Weimarer Republik. Während des Kalten Krieges wurde das Thema totalitarismustheoretisch in eine antikommunistische Abgrenzungsstrategie eingebunden. Das Dritte Reich war nur Gegenstand in den Schulen, weil es durch die Kenntlichmachung der vorgeblichen Wesensverwandtschaft mit dem Sowjetkommunismus den Feind im Osten diskreditieren sollte. Darüber hinaus wurde der Faschismus in Deutschland personalisiert verhandelt. Hitler und wenige weitere Bösewichte seien plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, hätten das deutsche Volk ver- und es in Krieg und Verbrechen geführt. Fragen nach strukturellen Ursachen, nach der Mitschuld der vielen Millionen Unterstützer und noch mehr Dulder stellten sich in dieser Sichtweise nicht.

Adornos Rede und das Insistieren der 68er auf der Aufarbeitung der Vergangenheit zeitigte Folgen. In den Schulen wurde der historische Unterricht über den Faschismus zunehmend mit moralischen und politischen Komponenten verknüpft. Die jüngere Lehrergeneration rief eine antifaschistische Erziehung aus. 1978 formulierte die Kultusministerkonferenz, die Schüler sollten zu politischer Urteilsfähigkeit geführt werden. Mit Blick auf den Nationalsozialismus im Unterricht hieß es, die Schule solle vor der «unkritischen Hinnahme und verharmlosenden oder gar verherrlichenden Darstellung des durch Diktatur, Völkermord und Unmenschlichkeit gekennzeichneten Dritten Reiches» schützen.

Da waren die Wellen des sogenannten Bossmann-Schocks in den Lehrerzimmern noch spürbar. Der Pädagoge Dieter Bossmann hatte 1977 mehrere Schulklassen unterschiedlicher Schulformen Aufsätze zum Thema «Was ich über Adolf Hitler gehört habe» schreiben lassen und Auszüge in Buchform veröffentlicht. Das Ergebnis: Trotz der inzwischen breit thematisierten NS-Vergangenheit wussten die Schüler nicht viel. Mehr als drei Jahrzehnte später ist dies nicht anders, wie immer wieder Studien zeigen. «Hitler oder Honecker? Mir doch egal» fasste der «Spiegel» eine Studie aus dem Jahr 2012 zusammen. (Verschwiegen werden soll nicht, dass andere Umfragen gute Kenntnisse über Holocaust und Drittes Reich konstatieren).

Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die intensive schulische Vermittlung von Kenntnissen über Auschwitz mitnichten Bedingung für die Eindämmung extrem rechten Gedankenguts ist. Im Gegenteil: Der Aufklärungsanspruch der Lehrer kann Abwehrhaltungen seitens der Schüler provozieren. Vor allem auch, weil Schüler bereits durch Filme, Medien, Familie oder die Peergroup Vorkenntnisse haben und ebenso mit der moralischen Haltung zum Nazifaschismus vertraut sind. Bei Jugendlichen, die sich in der Phase der pubertären Rebellion befinden, kann der Lehrer somit als Verkörperung der Mehrheitsgesellschaft mit seinen gut gemeinten ethisch-moralischen Zielen genau das Gegenteil von Aufklärung erreichen.

Zumal die Studie «Schule und Nationalsozialismus» über den Anspruch und die Grenzen des Geschichtsunterrichts zu einem ernüchternden Resultat kam: Der Geschichtsunterricht könne nicht mehr leisten als die «Einübung in die sozial gültig gemachten Redeweisen» über Nationalsozialismus und Holocaust. Es erfolge quasi die Habitualisierung eines bereits institutionalisierten rhetorischen Minimalkonsenses.

Das mag man allerdings nur für ernüchternd halten, wenn man davon ausgeht, die Behandlung von Faschismus und Holocaust in den deutschen Schulen verfolge in erster Linie das Anliegen, nicht nur die moralische Distanzierung vom Dritten Reich hervorzubringen, sondern auch über die gesellschaftlichen Ursachen und Bedingungen des historischen Faschismus und über das Jahr 1945 hinaus fortwirkende Elemente aufzuklären. Ersteres ist leicht zu haben, letzteres schwieriger. Über die Kontinuität der Eliten in der Bonner Republik wäre dann zu reden und über jene der bürgerlichen Herrschaft (in den 1970er Jahren wurde ein Buch des Marburger Politikwissenschaftlers Reinhard Kühnl gerade auch in Schulen viel gelesen. Der Titel: «Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus - Faschismus»).

Insbesondere auf die Legitimationsrolle des Geschichtsunterrichts für diese bürgerliche Herrschaft gehen die kritischen Erziehungswissenschaftler Freerk Huisken und Rolf Gutte ein. Ein Ergebnis ihres Buches «Alles bewältigt, nichts begriffen» lautet: «Die Umsetzung der politischen Vorgaben in den Schulbüchern lebt von dem Prinzip, den Faschismus als negative Abweichung von der Demokratie zu bestimmen.» Schüler lernten, dass die deutsche Nachkriegsdemokratie deswegen höchstes Lob verdiene, weil sie nicht der Faschismus sei. «In der Demokratie sollen sie deswegen die Versicherung gegen jegliche Neuauflage von Faschismus erblicken.» Doch, so die Autoren weiter, sie erführen so weder etwas über das Wesen des Faschismus noch über das der Demokratie.«

Eine moralisierende Herangehensweise scheint also nichts zu bringen - und vergrößert möglicherweise noch die Zahl der Schlussstrichzieher. Auch die reine Vermittlung von Faktenwissen ist nicht zielführend. Was aber dann? Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Volkhard Knigge sagte jüngst der »Süddeutschen Zeitung«: »Warum-Fragen sind besonders wichtig, denn darin steckt präventives Potenzial.« Gute Geschichtsdidaktik müsse demnach nach der Nähe zum Heute fragen, zum Beispiel mit Blick auf die Pegida-Bewegung zur Gegenwartsbeunruhigung beitragen. Diese linksliberale Sicht kann freilich weiter nach Links hin zugespitzt werden. Die Gegenwartsbeunruhigung muss dann auch die ökonomischen und die sie legitimierenden ideologischen Strukturen in den Blick nehmen.

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