Die Untoten 
des Kapitals

Raul Zelik über Angst durch Ungleichheit, 
Depression und Klassenkampf

  • Raul Zelik
  • Lesedauer: 8 Min.

Laut »Wirtschaftswoche« sind 75 Prozent der Deutschen der Ansicht, der Kapitalismus müsste stärker politisch reguliert werden. In Frankreich sieht man noch klarer: Dort sind 43 Prozent der Ansicht, der Kapitalismus sei am Ende, ein neues System müsse her. Doch auch wenn die Hegemonie des Weltsystems bröckelt, artikuliert sich - auch im siebten Jahr der globalen Krise - vergleichbar wenig Widerstand. Das liegt nicht nur daran, dass im Kapitalismus im Unterschied zu anderen Herrschaftsformen niemand die unmittelbare Verantwortung für die Verhältnisse trägt, weil sich die Aneignung wie von selbst organisiert. Es hat auch damit zu tun, dass der neoliberale Kapitalismus die gesellschaftliche Grundlage zersetzt, die überhaupt etwas Frage stellen könnte: das Soziale an sich, die gemeinschaftliche Zuversicht, dass etwas Anderes möglich ist und gewagt werden könnte. Wir gleichen einem Depressiven, für den die Gegenwart grau, aber die Zukunft noch farbloser ist. In dieser Hinsicht wäre die Zeit eigentlich reif für einen Antikapitalismus, der vom sozialpsychischen Erleben der Zustände ausgeht.

Der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher, der gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert, indem er sich von Karl Marx zur Popmusik, von Jacques Derrida zu den dazugehörigen Geistern, von universitären Evaluierungsverfahren nach Hollywood hangelt, hat das neoliberal-postmoderne Zeitalter vor einigen Jahren als »kapitalistischen Realismus« bezeichnet. Jeder alternative Vorstellungsraum ist versperrt, die Zukunft nur insofern offen, als die technischen Innovationen und kulturellen Moden, mit denen der feststehende Zukunftsweg ausgestaltet werden soll, noch gefunden werden müssen. Das alles erzeugt eine erdrückende Traurigkeit. Der kapitalistische Realismus, schreibt Fisher, »funktioniert analog zu der gedämpften Perspektive eines Depressiven, der glaubt, dass jeder positive Zustand und jegliche Hoffnung gefährliche Illusionen sind.«

Ausdruck dieser gesellschaftlichen Verschließung ist für Fisher die Tatsache, dass Popmusik, Moden und Jugendmilieus sich heute darauf beschränken, Stilzitate aufzugreifen und neu zusammenzusetzen. Gerade der Boom der »Kreativwirtschaft« ist Ausdruck des Verschwindens der Kreativität. Wenn die Inwertsetzung alle Lebensbereiche erfasst hat und selbst die Subversion als Marketingstrategie in die Totalität hereingeholt ist, kann kulturelle und soziale Praxis nur noch als sinnentleerte Farce daherkommen.

In der kapitalistischen »Wüste des Realen« gibt es kein Außerhalb mehr. Das ist die Quelle der großen Traurigkeit unserer Zeit: »There is no alternative«. Es ist nichts Anderes als das Bestehende möglich, wir müssen aber trotzdem permanent Neues schaffen, weil der Kapitalismus ohne beschleunigende Ausdehnung nicht überleben kann. Immer mehr Neues, das doch nur eine Kopie des Bestehenden ist. Und das Niederschmetterndste daran: Selbst das Scheitern erfüllt in dieser Maschine eine ökonomische Funktion. Depressionen als Wachstumsmarkt der Pharmaindustrie.

Wir sind die Untoten des Kapitals. Selbst das ereignisloseste Scheißleben dient der Akkumulation.

Es ist keine ganz neue Erkenntnis, dass sich der Kapitalismus nicht darauf beschränkt, Reichtum in den Händen weniger zu konzentrieren und phantasmagorische Ungleichheit zu generieren, sondern durch die Kolonisierung der Lebenswelten auch das Dasein derjenigen, die von den Verteilungsverhältnissen profitieren, jedes Sinnes beraubt. Beim jungen Marx der »Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte« (1844) stand die Entfremdung des Menschen von der Natur und von sich selbst sogar ganz im Mittelpunkt der Kritik. Erst von dort arbeitete sich der Entfremdungs-Marx in Richtung Klassen- und Verteilungsverhältnisse weiter. Mit Autoren wie Herbert Marcuse, Erich Fromm, Theodor W. Adorno oder André Gorz wurde der humanistische Marx in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder populär. Die Neue Linke fragte nicht länger nur, wem Produktionsanlagen gehörten und wer sich den Reichtum aneignete, sondern zunehmend auch nach dem Wie: Wie wird im Kapitalismus gelebt, gearbeitet, begehrt ...

Die Gewerkschaften konnten damit oft nicht besonders viel anfangen, stand doch die Lebens- und Konsumkritik im Widerspruch zu ihren Lohnkämpfen. Die Verwandlung der meisten Neulinken in Alternativbürgerliche seit den frühen 1980er Jahren gibt ihnen im Nachhinein aber auch ein wenig recht mit ihrer Skepsis. Die grünen Milieus haben die Entfremdungskritik systematisch zum Stilproblem reduziert: alternative Lebensentwürfe statt Konsumterror, Bio statt Lidl oder Aldi.

Die heutige Entschleunigungsdebatte, wie sie von dem Soziologen Hartmut Rosa (oder auch dem Philosophen Byung Chul-han) repräsentiert wird, kommt ein bisschen als Neuauflage dieser Stilpolitik daher. Zwar unterzieht Rosa den systemischen Ausdehnungs- und Akzelerationszwang des Kapitalismus einer scharfsinnigen Kritik. Dabei gerät aber aus dem Blick, dass die Klassenunterschiede größer sind als je zuvor und die Besitzer der großen Privatvermögen alles, auch das Mörderischste, zu tun bereit sind, um die herrschenden Entfremdungsverhältnisse (inklusive Wellness, Slow Food und Entschleunigung für sich selbst) zu verteidigen.

Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, um Entfremdungs- und Verteilungskritik dauerhaft (und im Übrigen ganz im Sinne von Marcuse oder Fromm) miteinander zu verschränken. Warum, zeigen die britischen GesundheitswissenschaftlerInnen Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem Buch »Gleichheit ist Glück« (2009), einer Großstudie über den Zusammenhang von Ungleichheit, psychischem Empfinden und Krankheit. Dabei gingen sie zunächst von folgender Beobachtung aus. Auf der einen Seite nimmt die Lebenserwartung bei wachsendem Wohlstand der Nationen bis zu einem gewissen Niveau zu - ein Zusammenhang, der nicht allzu schwer zu verstehen ist: Extrem arme Länder können die Grundversorgung mit Gesundheit, Trinkwasser und Kanalisation nicht gewährleisten; ab einer bestimmten Schwelle jedoch wirkt sich das höhere Bruttoinlandsprodukt nicht mehr positiv auf die Lebenserwartung aus. So liegt diese in den USA niedriger als beispielsweise in Costa Rica oder Kuba.

Auf der anderen Seite jedoch belegen Vergleiche innerhalb von Gesellschaften auch in den reichen Industriestaaten einen starken Zusammenhang zwischen Einkommensniveau und Lebenserwartung. In Deutschland beispielsweise liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen der höchsten Einkommensgruppe um zehn Jahre höher als die von Angehörigen der niedrigsten Einkommensgruppe. Das hat zweifellos auch damit zu tun, dass sich Reiche eine bessere Gesundheitsversorgung leisten können oder Bauarbeiter ein höheres Unfallrisiko tragen als Manager. Doch Wilkinson/Pickett wenden sich einem Aspekt zu, der in der Debatte nur selten eine Rolle spielt: der Angst.

Offensichtlich geht der entwickelte Kapitalismus - und das nicht erst seit Beginn des neoliberalen Zeitalters - mit der Ausbreitung psychischer Erkrankungen einher. In den 1980er Jahren waren Angstzustände unter Durchschnittskindern in den USA verbreiteter, als sie es in den 1930er Jahren in der Gruppe der Psychiatriekinder gewesen waren. Und auch unter Durchschnittsstudenten nahmen die Angstzustände zwischen den 1950er und 1990er Jahren deutlich zu. Bemerkenswerterweise sei gleichzeitig, so Wilkinson/Pickett weiter, die Bedeutung, die dem Selbstwertgefühl beigemessen wird, stark gestiegen. Sehr viel mehr Menschen als früher stimmten der Aussage zu, »ich bin wichtig«. Dabei handele es sich um ein instabiles Selbstwertgefühl - sogenannten »bedrohten Egozentrismus« oder »Narzissmus«. Die Bewertung durch die Außenwelt wird als permanente Bedrohung erlebt (»social evaluative threat«).

Damit stellt sich die Frage, was eigentlich die körperlichen Mechanismen sind, die der gesellschaftlichen Depression zugrunde liegen. Wilkinson/Pickett bezeichnen Scham als das soziale Gefühl von Menschen, wobei sich die Angst, ausgeschlossen oder gar gemobbt zu werden, unmittelbar auf die körperliche Gesundheit auswirke. So hat man in Forschungsreihen festgestellt, in welchen Situationen der Körper besonders hohe Dosen des Stresshormons Kortisol produziert. Interessanterweise sorgt soziale Angst - und nicht etwa konkrete Lebensgefahr - für besonders hohe Ausschüttungen. Kortisol, ein Entzündungshemmer, blockiert das Immunsystem und begünstigt damit die verschiedensten Erkrankungen. Herzinfarkte beispielsweise sind - entgegen der landläufigen Meinung - unter Arbeitslosen und Working Poor verbreiteter als unter Managern.

Das heißt: Armut und Marginalisierung erzeugen mehr Stress als hektische Cheftätigkeiten. Selbst Fettleibigkeit, gemeinhin als »Zivilisationskrankheit« bagatellisiert, ist nicht in erster Linie deshalb unter SozialhilfeempfängerInnen weiter verbreitet als unter Reichen, weil Erstere sich nicht gesund zu ernähren wissen oder nicht genug Geld dafür haben. Der Zusammenhang ist offensichtlich viel simpler und fundamentaler: Das physische Bedürfnis nach Zucker und Fett steigt mit dem sozialen Stress. Die Angst vor den Mitmenschen und ihrem Urteil, der »social evaluative threat«, verändert den Körper.

Die Kernthese von Wilkinsons/Picketts Buch ist, dass die Angst und die damit zusammenhängenden Krankheiten in Gesellschaften mit geringerer Ungleichheit abnehmen, während umgekehrt in ungleichen Gesellschaften das soziale Misstrauen, instabiles Selbstwertgefühl und rücksichtslose Verhaltensweisen zunehmen. Das erklärt ihrer Ansicht nach auch, warum Gewaltkriminalität nicht mit materieller Not, sondern vor allem mit Ungleichheit wächst. Selbst der Konsumismus erscheint in diesem Zusammenhang in einem anderen Licht. Er ist nicht einfach nur ein Produkt von Ideologie und falsch gewählter Lebensweise, sondern eine Strategie, um sich Anerkennung zu verschaffen. »In ungleichen Gesellschaften«, erklärt Wilkinson in einem Interview, »arbeiten Menschen länger, sparen weniger und verschulden sich mehr. Das ist so, weil der soziale Status hier wichtiger ist, und weil sie in einer sozialen Umgebung leben, in der sich Menschen stärker aufgrund ihres Status‘ bewerten.«

Die Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts machte ihr Elend zum Ausgangspunkt der Politik. Gegen den Hunger organisierte sie Lohnkämpfe, auf den Ausschluss aus der Bildung reagierte sie mit Selbstschulung. Wir heute reden erstaunlich wenig darüber, welches Elend wir heute - als durchökonomisierte Subjekte und beschleunigt arbeitende/konsumierende Klasse - im Metropolenkapitalismus erleben. Unsere Probleme verhandeln wir, als wären sie nicht gesellschaftlicher, sondern individueller Natur. Vielleicht lautet die entscheidende Herausforderung antikapitalistischer Politik daher, wie wir Niedergeschlagenheit, Unsicherheit, die Angst vor den Anderen und ihrer Verachtung nicht nur zu politischen Fragen, sondern auch zum Ausgangspunkt unserer Praxis machen können. Die durch die totale Inwertsetzung des Lebens entfremdeten Subjekte können sich und ihre soziale Umgebung kaum respektieren. Doch Subjekte, die sich selbst und das Soziale nicht schätzen, können auch nicht kämpfen.

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