Im wohlverstandenen Eigeninteresse

Der Philosoph Ottfried Höffe sinniert über die Macht der Moral im 21. Jahrhundert

  • Rudolf Walther
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn von Moral die Rede ist, fühlt sich jeder mit seiner, unter Umständen ganz subjektiven, Moral auf der sicheren Seite; für unmoralisch hält sich niemand. Moralphilosophie, eine Wissenschaftsdisziplin, trifft zumeist auf arrogantes Desinteresse. Dem wollen die 14 Essays des emeritierten Tübinger Philosophen Ottfried Höffe begegnen, indem sie Grundsätzliches klären und nicht einfache Rezepte anbieten.

Höffe beginnt mit der Frage nach der Signatur des 21. Jahrhunderts, das sich fundamental von jener Epoche unterscheidet, als Fragen der Moral in Europa erstmals diskutiert wurden. Am Anfang der Moralphilosophie steht Aristoteles (384 v.Chr. - 322 v. Chr.). Er meinte, alle Menschen strebten »von Natur aus nach Wissen«. Dabei unterschied er zwischen dem technisch-nützlichen Wissen (griechisch: »techné«) und dem philosophischen Wissen (»interesseloses Wissen«, griechisch: »theoria«), das nicht auf Nutzung und Effizienz gerichtet ist, sondern auf den Nutzen des Nutzlosen. Von solchem Denken ist das 21. Jahrhundert denkbar weit entfernt. Ökonomisierung und Globalisierung bestimmen unser Zeitalter. Die »Wissensgesellschaft« interessiert sich für nützliches Wissen und kennt nutzenfreie Wissbegier allenfalls noch als infantile Neugier. Höffe spricht zugespitzt von der »Diktatur des BWL-Denkens«.

Eine andere Grundfrage der Moralphilosophie betrifft die Stellung des Menschen und sein Verhältnis zu Natur und Tierwelt. Dem momentan überaus laut orchestrierten Diskurs über Tierrechte, in dem die Differenzen zwischen Mensch und Tier eingeebnet werden, antwortet Höffe mit den Einwänden der fortgeschrittenen Naturwissenschaft. Michael Tomasello vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie hat mit ingeniösen Experimenten und Tests nachgewiesen, dass nur Menschen über »kooperative Kommunikation« verfügen, hinter der alle sprachähnlichen Handlungen von Tieren weit zurückbleiben. Höffe leitet daraus aber nicht das in der Bibel vertretene und seit Jahrhunderten propagierte Vorrecht des Menschen ab, sich die Welt mit allem, was sie birgt (Tiere, Pflanzen, Rohstoffe, Landschaften) zum »Untertan« zu machen. Eine zeitgemäße ökologische Moral darf weder einseitig anthropozentrisch, also weder menschenfixiert, noch biozentrisch, d. h. naturfixiert begründet werden, sondern muss den Mittelweg »des pfleglichen Umgangs mit der Natur« gehen - im wohlverstandenen Eigeninteresse wie im Interesse von Natur, Pflanzen und Tieren. Auf eine solche Fundierung der Moral setzten bereits Michel de Montaigne (1533 - 1592) und Kant (1724 - 1804). Kant anerkannte zwar den Menschen als legitimen Herrn der Natur, aber nur insofern, als sich Menschen an die Grundgesetze der Moralität - Wechselseitigkeit, Schadensvermeidung, Fürsorge, Gerechtigkeit - halten.

Auch wenn sich heutige Forschung nicht mehr auf Aristoteles‘’ »nutzenfreie Wissbegier« begründen lässt, muss sie einer moralischen Verpflichtung treu bleiben, die Höffe so beschreibt: »Die Forschung wird für zweierlei verantwortlich, zum einen wird sie zwar nicht allein-, aber mitverantwortlich für die Einstellungsänderung, für das neue utilitaristische Selbst- und Weltverständnis, zum anderen trägt sie Verantwortung für das Einhalten ihres humanitären Versprechens.« Das gilt nicht nur, aber in besonderem Maße für die Forschung in den Lebenswissenschaften, in der Genforschung und in der Reproduktionsmedizin.

Rechtsmoral, d. h. einklagbare moralische Normen, die unbedingte Geltung beanspruchen, und Tugendmoral, deren Grundsätze nicht einklagbar sind - etwa Nächstenliebe und Solidarität - stehen immer in einem Spannungsverhältnis, dürfen jedoch nicht gegeneinander ausgespielt werden. Im Namen der Tugend der Nächstenliebe darf ein schwer kranker und leidender Mensch nicht getötet werden, denn rechtsmoralisch gilt das Tötungsverbot unbedingt - außer beim Recht auf Notwehr und im Kriegsfall. Auch Risiko und Sicherheit stehen in einem Spannungsverhältnis, das in modernen Gesellschaften den Alltag bestimmt. Wo die Sicherheit Vorrang vor der Autonomie erhält, ist es nicht weit bis zum patriarchalischen Fürsorgestaat respektive zur autoritär »gelenkten« Demokratie.

Zwar sind Geld, Medien und Politik die wichtigsten Machtmittel, aber auch Moral verfügt über Macht - negativ und positiv. Moral besitzt ein Erpressungspotenzial insbesondere im Zusammenspiel mit Medien, funktioniert aber auch als »Initialfaktor gesellschaftlicher Systeme«, wie Höffe betont. Seine Essays bieten im besten Sinne Aufklärung.

Ottfried Höffe, Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert. Annäherungen an eine zeitgemäße Ethik. C. H. Beck, München. 219 S., geb., 23,60 €.

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