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Die Solidarität geht weiter

Ein Ehepaar aus der DDR arbeitete zwei Jahre in Mosambik. Ihre Liebe zu den Bewohnern dauert bis heute an. Von Gabriele Oertel

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Sonne meint es an diesem Tag wieder ausgesprochen gut. Frauen singen und tanzen. Kinder gucken neugierig. Männer halten Reden oder tupfen sich mit Taschentüchern den Schweiß von der Stirn. In Banhine, 250 Kilometer entfernt von Mosambiks Hauptstadt Maputo, wird ein Brunnen nach afrikanischer Art eingeweiht. Unter all den dunkelhäutigen feiernden Menschen zwei Deutsche, die hier sichtbar nicht fremdeln, aber dennoch ziemlich ergriffen sind: Lisa und Heinz Reich. Das Video erinnert die beiden inzwischen 87- bzw. 90-jährigen Potsdamer an einen ihrer schönsten Tage. Denn es ist eine lange Geschichte, wie es zu diesem Brunnen kam, der nunmehr den Einwohnern von Banhine den täglich zweimaligen Sieben-Kilometer-Marsch zur nächsten Wasserstelle und zurück erspart. Und das Schönste: Sie ist noch nicht zu Ende.

Vermutlich haben Lisa und Heinz Reich weder geahnt noch geplant, dass ihr Leben einmal so aufregend werden würde. Wobei damals nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie sich in Klingenthal im Vogtland kennenlernten - sie im Turnverein und er gerade aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt - nicht nur gesungen wurde, »wir sind jung, die Welt ist offen«. Aber bis Afrika reichte selbst bei engagierten FDJ- und SED-Mitgliedern die Fantasie nicht. Vielmehr machten sich die beiden in der DDR auf einen langen, erfolgreichen und bisweilen auch beschwerlichen Weg. Heinz, der vor dem Krieg eine Lehre als Stahlgraveur aufgenommen hatte, aber wegen der Einberufung zur faschistischen Wehrmacht nicht beenden konnte, ging zur Bereitschaftspolizei, dann zur Kasernierten Volkspolizei und arbeitete später als Trainer bei den Turnern des Armeesportklubs (ASK). Lisa, die eigentlich bei Junckers Flugzeuge bauen sollte, gelangte neben ehrenamtlicher Tätigkeit beim Turnverband des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) über Jugendhochschule und diverse Fernstudien zu akademischen Weihen und kümmerte sich an der Potsdamer Pädagogischen Hochschule um den Studentensport. »Ganz nebenbei« war das Ehepaar Eltern zweier Töchter. Etwas verhalten sagt Lisa heute, dass die Mädels manchmal zu ihr gesagt hätten: »So wie ihr wollen wir mal nicht leben.«

Dabei konnten sie - inzwischen gehören auch vier Enkel und vier Urenkel zu den Nachkommen - damals gar nicht ahnen, in welche Turbulenzen ihre Eltern noch geraten würden. Als 1978 in Algerien die Panafrikanischen Spiele stattfanden, schickte der DTSB die Reichs nach Algier zur Vorbereitung der Sportler. Das hieß, zuvor schon wieder einmal die Schulbank zu drücken und Französisch zu lernen. Und danach, die algerische Juniorenmannschaften der Männer und Frauen im Turnen zu trainieren und bis zur Schüler-Weltmeisterschaft im türkischen Izmir zu führen. 1980 sind die beiden in die DDR zurückgekommen, hielten das Ganze für eine interessante, aber einmalige Episode und arbeiteten wieder beim ASK bzw. an der Hochschule.

»Wir haben uns nie vor der Arbeit weggedrückt«, sagt Lisa und ihr Mann Heinz will das unbedingt verstärken: »Wir wollten einfach jeden Tag ein sinnvolles Leben führen.« Von beidem müssen auch andere Wind bekommen haben. Jedenfalls wurden die Potsdamer 1986 nach Mosambik geschickt, um in dem damals noch jungen unabhängigen Land ein Sportinstitut aufzubauen. »Was für eine neue Chance - mit fast 60 Jahren noch einmal auf einen anderen Kontinent«, sagt Heinz mit sichtlichem Stolz. Seine Frau sah das weitaus skeptischer. Nicht etwa, weil sie beide nun auch noch Portugiesisch lernen mussten. Sie hatte in Algerien beobachtet, welche Rolle die Frauen in Afrika spielen und »deshalb wusste ich, was dran hängt«.

Fest steht, sie wusste es nicht. Als die beiden in Maputo ankamen, herrschte Bürgerkrieg. Strom und Wasser waren Mangelware, Ungeziefer in der Wohnung aber nicht. Nach 14 Tagen ist ihr damals ein heftiger Seufzer entwichen: »Arbeiten kann ich, aber wie ich hier zwei Jahre durchhalten soll, weiß ich nicht.« Aus zweien wurden vier Jahre, weil sie gemeinsam beschlossen, »hundert Prozent Einsatz« zu geben - für die DDR, die ihnen vertraute, für die jungen Studenten, aus denen sie Sportlehrer machen sollten, und für das Gastland, das 500 Jahre portugiesische Kolonialzeit hinter sich hatte und in dem an allen Ecken der Mangel regierte.

Aufgebrochener Fußboden, zwei kaputte Matten, ein halbes Sprungbrett - das war alles, was die »Professores« aus der DDR im künftigen Sportinstitut vorfanden. Improvisation war gefragt. Lisa und Heinz Reich haben sich nicht entmutigen lassen, »wollten etwas bewegen«, Hürden überwinden. Deshalb suchten sie wie Trüffelschweine Turngeräte und nutzten jede Gelegenheit bei Besuchen von DDR-Partei- und Staatsbesuchen, um Stück für Stück - mal einen Schwebebalken, mal ein paar Matten, mal Holme für den Barren, Medizinbälle, Kästen, Reifen - für ihre Studenten zu »organisieren«. Und sie gewannen Kinder, mit denen die künftigen Sportlehrer das methodische Wissen, das sie im Unterricht mit den deutschen Lehrern erwarben, auch ausprobieren konnten.

Zehn Jungen und zehn Mädchen (später wurden es 60!) waren schnell gefunden - die Kinder waren regelrecht verrückt nach gemeinsamem Lernen, lustvoller Bewegung, sinnvoller Freizeitgestaltung, erinnern sich beide. Aber zur Rhythmischen Sportgymnastik, die ihren Namen auch verdient, gehört nun einmal auch das entsprechende Äußere. Also machte sich Lisa auf den Weg in die DDR-Botschaft und entdeckte im Keller Vorräte von rotem Fahnenstoff - und damit die künftigen Turnhosen und Hemden ihrer Schützlinge. Doch das war leichter gedacht als umgesetzt. Nähgarn und Gummiband fehlten und wurden sukzessive bei Botschaftsmitarbeitern gesammelt oder von Heimaturlauben mitgebracht. Die Kinder jedenfalls waren stolz wie Bolle auf ihre Trikots, die Studenten stolz auf die Kids und die Reichs auf die einen wie die anderen.

Nicht nur wegen der umfunktionierten Winkelemente wurden die Turner des Sportinstituts »Made in GDR« bekannt wie die bunten Hunde. Auftritte vor dem Präsidenten, vor Abgeordneten der Asemblaja Popular sorgten für den Ruf des Ehepaares Reich, der sich bis heute gehalten hat - und bei ihrem Abschied auf dem Flughafen für einen Auflauf sorgte. Die Sportstudenten hatten organisiert, dass der letzte Blick, den sie 1990 vom Flughafen aus auf Maputo warfen, von einem Auftritt der Rhythmischen-Sportgymnastik-Kinder begleitet war. Lisa kann noch heute die Tränen nicht zurückhalten, wenn sie daran denkt. Heinz indessen lächelt eher, weil ein solcher Abschied nicht vielen zuteilgeworden war. »Nicht wenige haben beim Auslandseinsatz nur an die Valuta gedacht«, weiß er. »Aber das war nicht unser Ding.« Vielleicht haben das die großen und kleinen Schützlinge der Reichs gespürt. Vielleicht sogar, dass der Abschied nur vorübergehend war.

Zurückgekommen in ein neues Land, Rentner inzwischen, haben Lisa und Heinz Reich nicht aufhören können mit der Solidarität. »Die Kinder waren erwachsen, wir hatten keinen Garten, Reisen machte uns auch nicht so viel Spaß - das ist nicht unser Leben, haben wir uns gesagt. Wir brauchen eine neue Aufgabe«, umreißt Lisa ihre Gemütslage vor 25 Jahren. Aber die Rente allein reichte nicht, um die Idee umzusetzen, den Mosambikanern weiter zu helfen. So haben die beiden sich bei Amway engagiert - um das Geld, das sie seither dort verdienen, in Afrika sinnvoll einzusetzen. Dass Samuel Cossa ihnen in Potsdam über den Weg lief, erwies sich als wahrer Glücksfall. Er war 1988 aus Mosambik in die DDR gekommen, um Schweißer zu werden, gründete hier eine Familie und blieb. Der heute 43-Jährige ist nicht nur ihr reitender Bote, wenn wieder Solidaritätsgelder zusammengekommen sind - er hat die Reichs auch auf die Idee mit dem Brunnen in Banhine gebracht. Einmal, so hatte er als Jugendlicher geschworen, würde er seinem Dorf helfen, dass das Geschleppe mit dem Wasser über die zwei Mal sieben Kilometer aufhört. Das Ehepaar aus Potsdam ließ sich zum 80. Geburtstag nur Geld für den Brunnen schenken, spannte persönliche Freunde und Mitstreiter von Amway ein, arbeitete mit der Botschaft zusammen - und sammelte so privat insgesamt 13 000 Euro.

Nicht nur zur Einweihung des 30 Meter tiefen Wasserspenders, insgesamt drei Mal seit 1990 sind Lisa und Heinz Reich inzwischen wieder in Mosambik gewesen. Das bis dato letzte Mal 2013. Da sind sie einem Teil ihrer einstigen Schüler begegnet, die inzwischen »alle was geworden sind«. Die haben viele Dankesworte parat gehabt, weil die Deutschen sie »aufs Leben vorbereiteten« und sie die Jahre mit ihnen »als die schönsten« in Erinnerung haben. Freilich hat das das Ehepaar gerührt. Aber sie wären nicht die, die sie sind, wenn ihnen das genügen würde. Nachdem sie die Schule im Dorf gesehen hatten, in der es weder Toiletten noch Waschbecken gibt und bei Regen der Unterricht ausfallen muss, hat das Ehepaar beschlossen, gemeinsam mit Dorfvorsteher, Schul- und Bauleiter eine Schulerweiterung in Angriff zu nehmen. »Es wird ihre Schule«, sagen Lisa und Heinz Reich. Die Steine dafür sind schon vor Ort gegossen.

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