Der Schüler wird zum Lehrer

In der Philharmonie wurde das Chorwerk »Disputatio« von Pascal Dusapin uraufgeführt

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.
Pascal Dusapin komponierte sein Werk »Disputatio« im Auftrag des RIAS-Kammerchors. Gemeinsam mit dem Münchner Kammerorchester brachte der Chor das Musikstück nun in der Berliner Philharmonie zur Uraufführung.

Der RIAS-Kammerchor hat dies neue Werk des Franzosen Pascal Dusapin vorbildlich aufgeführt, begleitet vom Kammerorchester München unter Alexander Liebreich, unterstützt von Denis Comtet, der die Chöre einstudierte. Die Eckwerke bildeten Johannes Brahms’ »Geistliches Lied« op. 30 für Chor und Streicher, eingerichtet von Sir John Eliot Gardiner, und das Requiem op. 9 von Maurice Duruflé. Beides außerordentliche Stücke, die selten gespielt werden.

Das Brahms-Lied geht zurück auf ein geistliches Gedicht von Paul Fläming, darin ulkigerweise ein Vers ironisch auffordernd lautet: »Sei nur in allem Handel/ ohn Wandel,/ steh feste,/ was Gott beschleußt,/ das ist und heißt/ das Beste./ Amen.« Das Lied klingt eigentlich nicht wie Brahms. Es ist hochromantisch, erreicht fast die Klanglichkeit eines sphärischen Debussy und steckt, die Ironie der Verse tilgend, voller Trauer.

Das Requiem des Maurice Duruflé, er lebte von 1902 bis 1986, geht mit den beiden Solisten recht stiefmütterlich um. Der Bariton Stephan Genz hat zwei kürzere Auftritte, die Mezzosopranistin Stella Dufexis gar nur einen, allerdings einen außerordentlichen: »Pie Jesu«, ein Vierzeiler. Den singt sie, begleitet von einem tränenerfüllt sich aussingenden Violoncello, so anmutig, so ehrfurchts- und kummervoll, dass einem Schauer über den Rücken gehen. Groß umgesetzt das »Libera me«, darin integriert das »Dies irae«, gestützt allenthalben durch ein Trompeten-Trio, Streicher, Harfe und Pauken.

Zentral in der Mitte die vierzigminütige Uraufführung von Dusapins »Disputatio«, ein Auftrag des Chores. Der Komponist darf sich glücklich schätzen. Erstens über das Renommee dieses Ensembles, eines Chores von höchster technischer und ausdrucksmäßiger Ausgefeiltheit. Zweitens über die gestalterische Höhe der Wiedergabe der Uraufführung im Kammermusiksaal der Philharmonie. Und drittens schließlich über den außerordentlichen Erfolg dieser Neuen Musik beim Publikum.

Wie viel Geschichte hat Pascal Dusapins Musik? Schon seine Oper »Faustus, the Last Night« nach Christopher Marlowe, die 2006 in der Lindenoper zu erleben war, entpuppte sich als ungeheurer Wurf. Hierin verfährt Dusapin noch ziemlich radikal in Formstruktur und Gestaltung. Zum Zuge kommt eine serielle, die Sonorität eines Edgar Varese und die Strukturalität eines Boulez aufarbeitende Werkkonzeption.

Seine Sprache änderte sich unterdes. »Dispuatio« hat zwei Chöre. Der eine, auf der Empore, besteht aus vier Sopranen, die durchweg einstimmig singen, der zweite ist gemischt und singt in vielerlei Stimmlichkeit. Das Tonmaterial des Sopran-Quartetts bewegt sich im Sekund- bis Quintraum, der Oktavabstand wird allenfalls erreicht, wenn die Vokalität überschießt. Als Textgrundlage wählte der Komponist Dialoge von Meister Alkuin, einem englischen Gelehrten, der im 8. Jahrhundert lebte. Ein Streitgespräch in über 100 kurzen Fragen und Antworten. Es handelt von Natur, Gott, Alltag, Rätseln der Welt. Eine Art Lehrstück, in dem das Frage-Antwort-Spiel kippt, zu Turbulenzen führt, ja zu zerspringen droht, und sich endlich umkehrt: Der Schüler wird zum Lehrer.

Die Chöre behalten in allen Lagen der Komposition die Oberhand, während das Instrumentarium - Streicher, Glasharmonika, Schlagzeug, Pauken (Bläser fehlen) - begleitet, einige Farben beisteuert, jedoch nur selten aus sich herausgeht. Wenn, dann geschieht das an Kulminationspunkten, dort, wo der Disput, einer Pattsituation gleich, zu stagnieren scheint, wo Kräfte sich aufstauen und gemahnen, die Situation des Nichtvorankommens zu überwinden, und schließlich machtvoll nach außen drängen. Da tremolieren wild die Streicher, da ist der Schlagzeuger mit seinen Metallplatten am Zuge, und die Schlegel des Paukisten treffen lautstark die Felle. Solche Schmerz- oder Druckpunkte - sie exponieren sich wenige Male - zerreißen den Duktus des scheinbar ewig Gleichen und des Schattigen, gestützt auch durch die Verwendung von Kirchentonarten.

Schön anzusehen, wie sich die Lust etwa der vier Soprane, ihren Parts vollendete Gestalt zu geben, in ihren Gesichtern spiegelte. Indes: Nichts des ernsten Geschehens lässt ein Lächeln zu. Heiteres, Pointiertes fehlen völlig. Wo doch jeder leidenschaftliche, gestrenge Disput auf Komisches oder Kurioses, den Scherz oder gar Witz nicht verzichten will (nicht zu verwechseln mit den lächerlichen Peinlichkeiten der TV-Talkshows). Aber, sei hervorgehoben, das ist kein Makel der Komposition. »Disputatio« von Pascal Dusapin, einem wirklichen Meister, behandelt, was nicht nur großen Geistern des Mittelalters zur Lebensregel geworden ist, nämlich das mannigfach sich äußernde Prinzip des Lernens, etwas, das über Klippen und Widersprüche hinweg, diese selber vergegenständlichend, nicht enden darf und nicht enden wird.

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