»Ostalgie«: Verhängnisvolle Verklärung

Was es mit dem Gefühl der »Ostalgie« auf sich hat und warum die Sehnsucht nach dem Damals selbst autoritäre Züge zeigt

  • Anne Seeck
  • Lesedauer: 7 Min.
Wohlfühlstimmung mit Retro-Charme: Im Berliner DDR-Hostel kann man »Ostalgie« buchen.
Wohlfühlstimmung mit Retro-Charme: Im Berliner DDR-Hostel kann man »Ostalgie« buchen.

Ich lebe seit mehr als 30 Jahren in Berlin-Neukölln. Hier ist es schlimm geworden, heißt es: Verelendung, Müll und Gentrifizierung. Es soll nicht so werden wie in Neukölln, so die Meinung vieler Ostdeutscher. In meiner ostdeutschen Herkunftsgegend hatten bei der letzten Bundestagswahl mehr als 50 Prozent der Wähler*innen kein Problem damit, bei der rechtsextremen AfD ein Wahlkreuz zu machen. Das geschieht in einem Landstrich, in dem die Einheitspartei SED in der DDR zwischen all den Nazi-Mitläufer*innen nach 1945 immerhin einen antifaschistischen Staat aufbauen wollte. Spätestens ab 1987 wurde auch in der DDR deutlich, dass es ein Problem mit Rechtsradikalen gibt. Der Rassismus war schon damals das Gepäck aus vergangenen Zeiten – und lebt entsprechend in der Verklärung jener Vergangenheit fort. Das viel geteilte Gefühl der »Ostalgie« ist nach rechts anschlussfähig.

»Damals war es sicher«

Insbesondere seit dem Mauerfall 1989 bemühte man in der vereinigten Bundesrepublik die Totalitarismustheorie, um die DDR zu dämonisieren. Die DDR-Vergangenheit ist in Forschung, Medien und Gedenkstätten umfassend aufgearbeitet, das spielt für viele Ostdeutsche allerdings eine geringe Rolle. Das DDR-Bild wurde laut einer breiten Befragung des »Mitteldeutschen Rundfunks« im Jahre 2021 zu 81 Prozent von persönlichen Erinnerungen sowie zu 43 Prozent durch die Erfahrungen und Erzählungen naher Verwandter wie Eltern und Großeltern geprägt. An den Küchentischen in den ostdeutschen Familien wurden Alltagserfahrungen aus der DDR seit der »Wende« nostalgisch weitergetragen. Je brutaler der Kapitalismus herrscht, desto schöner erscheint so manchen die DDR, obwohl die große Mehrheit der Ostdeutschen jenen Staat »abgewählt« hatte. Ängste vor Veränderung und vor Abstieg in den sich zuspitzenden Krisenzeiten verunsichern, sodass die glückselige Vergangenheit reizvoll erscheint.

Selbst in der heute noch beschaulichen ostdeutschen Provinz hört man: »Damals war es noch sicher!« Oft wird dies mit der Behauptung verknüpft: »Damals gab es keine Ausländer!« Die DDR war durch die Mauer ein abgeschottetes Land. Für viele scheint eine Migrationsquote von einem Prozent, wie in der DDR, erstrebenswert. Sie sehnen sich nach einer homogenen Volksgemeinschaft.

Für wen war es in der DDR eigentlich sicher? Die algerischen Vertragsarbeiter, die im August 1975 durch Erfurt gejagt wurden, hätten dem nicht zugestimmt, ebenso wenig jene Menschen, die Kritik übten und dafür wegen »staatsfeindlicher Hetze«, »öffentlicher Herabwürdigung« oder anderer politischer Paragrafen im Gefängnis saßen beziehungsweise wegen »asozialen« Verhaltens inhaftiert wurden. Auch für Oppositionelle, die bespitzelt und denunziert wurden, war es nicht sicher. Was hieß also Sicherheit in einem Land, in dem das ganze Leben einer Staatspartei untergeordnet wurde und keine unabhängige Zivilgesellschaft existierte? Wo auf 89 DDR-Bürger*innen ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit kam?

»Wir waren alle gleich«

Und was war das eigentlich für eine »solidarische Gesellschaft«, die nach 1990 sofort verschwand? »Wir waren alle gleich«: Auch diese Aussage über die sozialen Verhältnisse in der DDR ist häufig zu hören, Gleichheit ist für viele ehemalige DDR-Bürger*innen bis heute ein hoher Wert. Und tatsächlich herrschte in der proletarischen DDR Vollbeschäftigung. Es wurde Respekt vor körperlicher Arbeit gelehrt, Arbeiter*innen wurden von der SED geradezu hofiert, indem man sie in der Nachrichtensendung »Aktuelle Kamera« stumm oder mit vorgestanzten Sätzen vorführte.

Dabei war auch die DDR keine klassenlose Gesellschaft, sie war von vielen sozialen Spaltungen durchzogen. Finanziell ging es vielen Arbeiter*innen in der späten DDR zwar relativ gut, trotzdem war in südlichen Industrieregionen 1989 die Unzufriedenheit am größten: Die Arbeiter*innen hatten zwar Geld, konnten aber nichts kaufen, wie sie in der Umbruchszeit im Fernsehen betonten; vieles musste privat getauscht werden, weil Mangel herrschte. Auch »Rentenunrecht« hatte es schon in der DDR gegeben: Sonderrenten für Funktionäre und die »Intelligenz«, Altersarmut vor allem für Frauen. Allerdings profitierten Rentner*innen in der DDR auch von der »zweiten Lohntüte«, also den geringen Lebenshaltungskosten. Der individuelle soziale Status in der DDR spiegelt sich oft genug in den jeweiligen Renten in der kapitalistischen Bundesrepublik wider. Viele dachten in der DDR nicht an eine Karriere, das rächte sich.

Artikuliert sich in der »Ostalgie« vielleicht auch eine Sehnsucht nach Verhältnissen, wo Wohnraum keine Ware und kein Spekulationsobjekt ist?

Einige DDR-Bürger*innen, darunter Kulturschaffende, genossen viele Privilegien, durften etwa ins westliche Ausland reisen. Götz Eisenberg schrieb es in seiner Durchhalteprosa: »Einem braven Staatswichtel ging es gar nicht so schlecht in der DDR.« Andere dagegen saßen zur gleichen Zeit im Gefängnis wegen »versuchter Republikflucht« oder weil sie wegen »hartnäckiger Ausreiseantragstellung« den Staat »belästigten«, hatten »Berlin-Verbot« beziehungsweise einen Behelfsausweis PM12, der nicht einmal zum Grenzübertritt in osteuropäische Länder berechtigte.

Das kritische Denken war in der DDR zumeist nicht an den Universitäten zu finden. In den 80er Jahren besaßen die Kinder der sozialistischen Dienstklassen Bildungsprivilegien, die ihnen in jungen Jahren mit akademischem Abschluss beste Startchancen im neuen System verschafften. Wer als Mann aber keinen »normalen« Wehrdienst absolvierte – die Zulassung für bestimmte Studienrichtungen setzte oft drei Jahre beim Militär voraus – und Bausoldat wurde, durfte in der Regel nur noch Theologie studieren. Das Bildungssystem der DDR sortierte die Schüler*innen trotz »Einheitsschule« schon früh: Während die »Begabten« Spezialschulen besuchen konnten und nur wenige Schüler*innen zur Erweiterten Oberschule durften, wurden »Beeinträchtigte« in Sonderschulen geparkt oder »Auffällige« in Heime und Jugendwerkhöfe abgeschoben. Angesichts dieser Verhältnisse wird die nostalgische Erinnerung vieler ehemaliger DDR-Bürger*innen zu einer durchaus zwiespältigen Angelegenheit. Viele erinnern sich gern an die »soziale Sicherheit« im Land. Es gab in der DDR zwar ein Recht auf Arbeit, aber auch einen Zwang dazu – welchen die Subkultur, die sich in den 80er Jahren entwickelte, denn auch zunehmend unterlief.

»Da gab es keine Obdachlosen«

Artikuliert sich in der »Ostalgie« heute vielleicht auch eine Sehnsucht nach Verhältnissen, wo Wohnraum keine Ware und kein Spekulationsobjekt ist – als Resultat einer anderen Eigentumsordnung? In der DDR hatte der Artikel 26 der Verfassung ein Grundrecht auf Wohnen garantiert. Die Mieten im Altbau waren auf dem Stand von 1936 eingefroren, im Neubau kosteten sie 1 DDR-Mark pro Quadratmeter. Wohnen war in der DDR also extrem günstig, zudem konnte eine Wohnung nicht gekündigt werden. Viele DDR-Bürger*innen haben also schlicht keinen Existenzdruck als Mieter*innen gespürt. Allerdings erwies sich die staatliche Wohnraumlenkung als schwerfälliger Apparat, der vor allem die Kleinfamilie bei der Wohnungsvergabe bevorzugte. Abweichende Jugendliche aus der Provinz, die in die Ostberliner Innenstadt strömten, behalfen sich damit, massenhaft still leer stehenden Wohnraum zu besetzen. Das damals sogenannte »Schwarzwohnen« wurde vom Staat geduldet. Viele Innenstädte mit Altbausubstanz verfielen ohnehin zusehends.

Der sozialistische Staat hatte die Wohnungsfrage lösen wollen, indem er massenhaft Plattenbauten errichtete. In den 70er und 80er Jahren zogen die »Normalbürger*innen« gerne dorthin, weil die Wohnungen Heizung und Bad hatten. Die entstehende Subkultur wiederum kritisierte auch anhand dieser Wohnungen die Uniformierung des Lebens in der DDR, die sich hier zeigt. Derweil existierte eine soziale Durchmischung. Segregation, wie in heutigen Großstädten erlebbar, blieb der DDR weitgehend fremd. Bis auf eine wichtige Ausnahme: die sogenannten Vertragsarbeiter*innen aus dem Ausland, häufig aus einigen Ländern im Globalen Süden, wurden in Wohnheimen ghettoisiert.

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Insgesamt lässt sich festhalten: Auch der nostalgische Blick auf eine angeblich allgemein positive Wohnsituation in der DDR hält der Realität nicht stand. Deshalb Vorsicht mit der Ostalgie. Wir brauchen kein Denken in »Ost-West-Schubladen«, sondern müssen autoritäre Erfahrungen sowohl im Osten als auch im Westen aus der Perspektive von unten beleuchten. Dazu gehört auch, dass die folgenden Generationen im Osten ihre Familiengeschichten seit der NS-Zeit aufarbeiten, denn in der DDR hatte es kein rebellisches 1968 gegeben, wodurch in der BRD das Schweigen über die NS-Zeit zumindest teilweise aufgebrochen wurde. Und auch eine kritische Aufarbeitung der Geschichte des Realsozialismus ist eben notwendig – ein rückwärtsgewandtes »Es war nicht alles schlecht«-Gerede ist hier nicht hilfreich.

Wir brauchen vielmehr Hoffnung auf eine bessere Zukunft: eine wirkliche Vergesellschaftungsperspektive als Alternative zu einer allumfassenden Verstaatlichung à la DDR ebenso wie zu der derzeitigen rabiaten neoliberalen Privatisierungspolitik. Eine solche Perspektive zu entwickeln, wäre auch ein Schritt, um die Dystopie einer Faschisierung zu verhindern. Wer sich hingegen der Verklärung der Vergangenheit ergibt, gibt auf. Und wer aufgibt, hat schon verloren.

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