Das »Referendum« fürs Präsidialsystem ist gescheitert

AKP blieb zwar stärkste Partei, aber die eigentlichen Gewinner sind Nationalisten und Linke. Eine Wahlnachbetrachtung

  • Murat Çakır
  • Lesedauer: 3 Min.
Noch bedeutet der Wahlerfolg der HDP nicht, dass in der Türkei eine demokratische, linke Mehrheit an die Macht kommt. Aber er bietet eine gute Grundlage dafür, das gebildete Linksbündnis zu erweitern.

Die Türkei hat gewählt. Diese Parlamentswahlen stellen in der 13-jährigen AKP-Ära eine eindeutige Zäsur dar. Jetzt steht es fest: In der Türkei wird nichts mehr so sein, wie es bisher war. Das zeigte sich schon während des Wahlkampfs. Die Entscheidung des Linksbündnisses Demokratische Partei der Völker (HDP), anstatt mit unabhängigen Kandidaten erstmals als Partei an diesen Wahlen teilzunehmen, und gleichzeitig das Bestreben des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, diese Wahlen quasi zu einem Referendum für ein Präsidialsystem umzuwandeln, hat diese Wahl zu einem Schicksalswahl gemacht.

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Von den insgesamt 55 649 551 Wählern gingen 45 885 623 (82,45 %) zur Wahl. Davon wurden 44 379 986 als gültige Stimmen gewertet. Somit wurden über 1,5 Millionen Stimmen als ungültig bewertet. Zahlreiche Berichte bestätigen, dass dies insbesondere in den kurdischen Gebieten und in mittelanatolischen Wahlbezirken der Fall war. In Zusammenhang mit den außerordentlich vielen Wahlfälschungsversuchen kann durchaus behauptet werden, dass ein großer Teil der als ungültig bewerteten Stimmen für die HDP abgegeben worden sind.

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Konstruierte Eröffnungszeremonien von unfertigen oder auch längst in Betrieb genommenen staatlichen bzw. privaten Einrichtungen wurden von Erdoğan als Wahlkundgebungen genutzt. In den letzten Wochen des Wahlkampfes wurden eigens für solche Zwecke in verschiedenen Städten Veranstaltungen unter dem Titel »Der Staatspräsident trifft seine Staatsbürger« durchgeführt.

Analysten sprechen davon, dass die AKP ohne die Interventionen Erdoğans noch weniger Stimmen hätte bekommen können. Dabei standen der AKP der gesamte Staatsapparat und viele gleichgeschaltete Medien zur Verfügung. Allein im staatlichen Fernsehsender TRT wurde im Mai über Erdoğan 45 Stunden, über die AKP 55 Stunden berichtet. Über die stärkste Oppositionsgruppierung, die Republikanische Volkspartei (CHP), aber nur 14 Stunden, über die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) sieben und über die HDP nur drei Stunden. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu nutzte seine Dienstfahrzeuge für Wahlkampfveranstaltungen. Beamte, Lehrer und staatliche wie kommunale Beschäftigte sowie Schüler wurden landesweit verpflichtet, an AKP-Kundgebungen teilzunehmen.

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Nutznießerin der nationalistischen Rhetorik war die MHP. Die Neofaschisten konnten nicht ihre Wählerbasis halten und profitierten wohl auch von Wählerwanderungen von AKP und CHP zu ihr. Insgesamt bekam die MHP rund zwei Millionen Stimmen mehr als 2011. Als nach den ersten Prognosen von einer möglichen AKP-MHP-Koalition gesprochen wurde, erklärte der MHP-Vorsitzende, Devlet Bahçeli, dass seine Partei keine Koalition wünsche. Ob die MHP diese Aussage der Wahlnacht aufrecht erhält oder bei einer personell veränderten AKP-Spitze doch Ja sagen wird, bleibt aber abzuwarten.

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Die Wahlforschungsinstitute waren sich lange nicht einig, ob die HDP die Zehn-Prozent-Hürde schaffen könnte. Aber die Anschläge auf die HDP in den vergangenen Wochen und die Möglichkeit, dass die AKP die Nutznießerin eines Parlaments ohne die HDP sein würde, hat nicht nur kurdische und linke Wähler, sondern auch zahlreiche laizistische Türken zur Wahl der HDP bewegt. In der erstmaligen Wahlteilnahme als Partei konnte die HDP mit 13,1 Prozent 5 989 125 Stimmen auf sich vereinigen. 2011 war die kurdische Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) mit unabhängigen Kandidaten angetreten und hatte etwa 6,4 Prozent erhalten. Bei diesen Wahlen konnte die HDP die Stimmen ihrer Vorgängerin BDP quasi verdoppeln.

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Die HDP wird allgemein als Linksbündnis betrachtet. Aber um den Einfluss der AKP innerhalb der konservativen kurdischen Bevölkerung zurückzudrängen, wurden von ihr auch religiös-konservative Kandidaten aufgestellt. In den Vordergrund wurde eine »Identitätenkampagne« gerückt, die sich für die Gleichberechtigung aller ethnischen wie religiösen Gruppen einsetzte.

Murat Cakir ist in Istanbul geboren und heute Regionalbüro-Leiter der Rosa- Luxemburg-Stiftung in Hessen.

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