Simply Black

Erinnerungen an den 18. März 1990, nach dem der Ausverkauf seinen Lauf nehmen sollte. Von Rüdiger Krause

  • Rüdiger Krause
  • Lesedauer: 9 Min.

Meine Großeltern sagten immer, wer die Bundesrepublik überfallen will, der macht das am Wochenende. Da sind die Kasernen leer, weil alle Soldaten übers Wochenende nach Hause fahren. Die alte DDR war nicht so leichtfertig gewesen. Aber diese alte DDR gab es jetzt nicht mehr.

Dass in der neuen DDR das zweite D wirklich für »demokratisch« stand, wollte man schnell noch richtigstellen, kurz bevor das ganze Experiment beendet wurde. Und so wurden am Wochenende zum 18. März 1990 fast alle Soldaten zwischen Kreidefelsen und Vogtland nach Hause geschickt, um frei zu wählen, anstatt die Heimat zu beschützen. Eigentlich hatte ja niemand mehr so richtig etwas dagegen, vom imperialistischen Ex-Klassenfeind erobert zu werden.

Auch ich wurde zu diesem Anlass in den Kurzurlaub entlassen. Das Ende meiner Armeezeit und der nachträgliche Wechsel in den Zivildienst waren bereits abzusehen und ich fuhr, ohne die verhasste Ausgangsuniform tragen zu müssen, mit dem Zug nach Magdeburg. Meine Eltern erzählten mir freudestrahlend, dass auf dem Alten Markt eine Riesenparty gefeiert wird. Weil in der DDR zum ersten Mal freie Wahlen sind. Eine Band würde spielen. Stände mit Bratwurst, Bier aus dem Westen und eine Videowand für die Hochrechnungen würde es geben. Und einfach gute Laune.

Ich war halbwegs politisch engagiert und bestens informiert. Es gab keinen Zweifel daran, wer die DDR in ihrer Auslaufphase regieren würde. Die SPD! Sie würde das Rennen machen und dann mit dem Bündnis 90 eine Koalition eingehen. Also ganz links im Diagramm der rote Balken. Welche Farbe würde wohl der Balken des Bündnis 90 haben? Grün oder lila oder Regenbogen? In der zukünftigen Ex-DDR war alles möglich. Abschaffung der Wehrpflicht, Schwerter zu Flugscharen als Staatswappen und Dirigent Kurt Masur for President.

Zur Wahlparty sollte dann »PAN« spielen, die Band, in der mein Musikschulfreund Krolli früher Gitarrist gewesen war, die schon 1985 wie eine echte Top-40-Cover-Band klang und deren Sänger immer ein ganz sympathischer war. Bandchef Bodo hatte vor ein paar Jahren, als er noch Bass spielte, im Westen eine Erbschaft gemacht und sich einen nagelneuen, topaktuellen Synthesizer mitgebracht. Seitdem spielte er in seiner Band Keyboard. Mit einem DX7 klang alles wie aus dem Radio. Gitarristen brauchten nicht mehr zu üben. Saxophonisten auch nicht. Das machte alles Bodo mit dem DX7. Bald würden viel mehr Bassisten die Chance bekommen, Keyboarder zu werden.

Es war ein schöner, relativ warmer Frühlingsnachmittag. Ich nahm exakt meinen alten Schulweg, denn ich musste ja noch wählen gehen, und mein Wahllokal befand sich in der Schule, die immer noch nach Wilhelm Pieck benannt war. Viel verändert hatte sich hier nicht.

Vor dem Rathaus sah es allerdings nicht mehr aus wie noch ein paar Monate zuvor. Der Alte Markt war ein einziger großer Biergarten. Vorne gab’s eine Livebühne mit schicken Traversen und einer großen Videowand. Auf manchen Sonnenschirmen prangte das Logo der West-CDU. Ja ja, klar, die wollten eben überall mitmischen, hatten doch aber keine wirkliche Chance gegen die mutigen DDR-Oppositionellen, für die das Herz der vielen Tausend Montagsdemonstranten schlug.

Zu Hause bei meinen Eltern hatte ich schon ein, zwei Bier getrunken und auf dem Alten Markt ging’s schön weiter mit Freibier aus Plastikbechern. Ich hatte schon Jahre zuvor aufgehört, den ostdeutschen Begriff »Plaste« zu verwenden, weil das so DDR-mäßig war. Plaste und Elaste aus Schkopau. Davon hatte ich mich klar abgegrenzt.

Die Gruppe »PAN« spielte, und dass ich auf der Party kein bekanntes Gesicht entdecken konnte, war mir egal. Schließlich kannte ich die Band! Und die klang über die Riesenanlage gleich noch mal so gut. Richtig sauber. Wie aus dem Radio. Fast gar nicht mehr wie eine Band, sondern viel besser. Es gab zum Sänger noch eine Sängerin dazu, und das ganze Repertoire von Belinda Carlisle bis Jason Donovan war kein Problem für »PAN«. Die meisten der gespielten Songs mochte ich nicht, aber die Band war so professionell! Und wenn »Sade« oder »Level 42« gecovert wurde, war ich auch wieder bester Dinge. Das da vorne waren meine Leute!

In der Pause begrüßten wir uns: Ach, dich hätt ich fast nicht erkannt! Wo sind denn die schönen Haare hin? Ach, haben sie dich doch noch eingezogen? Ist da überhaupt noch jemand bei der NVA? ... An diesem Tag war’s jedenfalls fast keiner mehr. Es gab viel zu erzählen, und da ich bei dieser historischen Party nicht vorhatte, zu früh zu gehen, war es eine klare Sache, dass ich später noch mit »PAN« abhängen würde.

Als Musiker hatten wir interessante, ganz neue Perspektiven. Freier Wettbewerb und endlich keine Zensur mehr. Keine Partei würde uns Künstler mehr vor ihren Karren spannen. Keine Ja-Sager-Feste zum 7. Oktober oder 1. Mai mehr. Keine Estradenprogramme, auf denen Volkskunstkollektive von ihren Trägerbetrieben zur Schau gestellt würden.

Ich freute mich sehr, diesen Tag mit zukünftigen Kollegen zu verbringen. Aber die mussten jetzt zurück auf die Bühne. Die Leute wollten feiern, und die erste Hochrechnung würde auch bald kommen.

Das Bier schmeckte immer noch, und es war für einen waschechten Demokraten wie mich kein Problem, dass doch ziemlich viele der Sonnenschirme das CDU-Logo aufgedruckt hatten. Schließlich regierte Helmut Kohl frei gewählt unser deutsches Nachbarland, und dort freuten sich einfach alle mit uns. Die ersten freien Wahlen im Osten!

Langsam wurde es richtig spannend. Die Wahllokale hatten geschlossen. Die erste Prognose musste jeden Moment veröffentlicht werden. Ich hatte das Bündnis 90 gewählt. Die hatten meine Sympathie, weil das Neue Forum mit dabei war. Und die SPD brauchte meine Stimme nicht. Die war sowieso stärkste Kraft.

Neun Jahre zuvor war ich noch zum Wahlsonntag im Kulturprogramm meines Schulchors aufgetreten. Da war noch alles ganz anders gewesen. Ich trug eine Pilzkopffrisur und ein Pioniertuch und spielte damals noch Klavier. Ein Instrument, bei dem ich nicht geblieben bin. Ich wollte Gitarre spielen. Wegen der Beatles und wegen Stefan Diestelmann. Und weil meine Eltern eben keine Erbschaft im Westen gemacht hatten.

Damals wurden die Kandidaten der Nationalen Front gewählt. Die gemeinsame Liste der SED und ihrer Blockparteien - habe ich schon erwähnt, dass eine davon die CDU war? - gewann immer mit traumhaften 99,8 Prozent ohne Gegenkandidaten. Die Nachfolger dieser Blockflöten, wie wir sie in der kreativen Aufbruchszeit nannten, hatten jetzt, im Jahr 1990, wohl nicht mehr viel zu melden.

Noch ein Bier. Es wurde Zeit für das erste Wahldiagramm. Ich blieb gespannt unter einem Schirm stehen, auf dem »CDU« stand. Die Band unterbrach ihr Lied und starrte erwartungsvoll auf die Videowand.

Mir gingen die bärtigen Gesichter von Wolfgang Thierse und Markus Meckel durch den Kopf, die irgendwie ein bisschen wie Marx und Engels aussahen - und nun als aufrechte Sozis aus der illegalen Opposition bis an die Spitze der Regierung gelangen würden. Ich dachte an die ersten Unterschriftenaktionen des Neuen Forums. An Montagsdemos. Angst, Erleichterung, Hoffnung. Neue Lieder zur Wandergitarre im Dom: »und sa-hag e-hes wei-ter«. Umgestalten statt Ausreisen. Der alternative Weg. »Wir sind das … oder wenigstens eins davon.«

18 Uhr. Die erste Hochrechnung! Ganz links im Balkendiagramm die Farbe der stärksten Partei. Und die war - ganz klar - schwarz! So eindeutig schwarz und so eindeutig am größten, wie es nur irgendwie ging.

Richtig hinsehen! Das konnte jetzt nicht stimmen. Noch mal blinzeln. Immer noch schwarz. Vielleicht ein Irrtum? Ein Computerfehler wie 1981 bei der ZDF-Hitparade, als Hans Hartz mit seinem Lied »Die weißen Tauben fliegen nicht mehr« null Prozent der TED-Stimmen bekommen hatte und Schnellsprecher Dieter Thomas Heck noch im Abspann eine Gegendarstellung unterbringen musste. Scheinbar auch das nicht. Keine Richtigstellung. Kein Dieter Thomas Heck.

Aber noch unfassbarer als das Ergebnis an sich war der Jubel, der um mich herum losbrach. Als wäre Fußballerlegende Sparwasser zurückgekommen, um für den 1. FC Magdeburg das erste gesamtdeutsche Tor des Monats zu schießen. Alle klatschten und jubelten der CDU und ihrer »Allianz für Deutschland« zu.

Hilflos suchte ich den Blickkontakt zu meinen Kollegen auf der Bühne und sah ..., wie die Band jubelte! Mit zackig in die Luft gestoßenen Fäusten und seligen Umarmungen zeigten die Musiker, dass das vorläufig amtliche Endergebnis für sie ein richtiger Grund zum Feiern war. Wie hatte ich mich so in ihnen täuschen können? Musiker, die aus dem Rock ’n’ Roll, also aus der Rebellion, kommen, können doch nicht »juhuu!« schreien, wenn die Erzkonservativen hier den Wahlsieg einfahren!

Ich ging mit einem neuen Bier ein Stück weg vom Zentrum der guten Laune. Erst jetzt, aus dieser Perspektive, wurde mir allmählich klar, wo ich den Abend verbracht hatte. Ich war auf einer CDU-Party gelandet. Die CDU hatte alles bezahlt: den Alten Markt, die Videowand, die Gruppe »PAN«, das Bier und die Sonnenschirme. Es stand ja auch eindeutig überall »CDU« drauf.

Ich war völlig benommen. Nicht vom Biertrinken. Über eine stärkere Wirkung des Alkohols wäre ich sogar froh gewesen. Mich bedröhnte vielmehr die Situation, in die ich mich selbst hineinbegeben hatte. Alles Mögliche kam mir in den Sinn. Zum Beispiel der Slogan des Bündnis 90: »Wer bei Honecker Blockflöte gelernt hat, kann in keiner Demokratie die erste Geige spielen.« Und wie ich mich über so viel Humor in diesem ersten und letzten Wahlkampf in der DDR amüsiert hatte. Die ostdeutschen Blockparteien, die erst dann auf Distanz zur allmächtigen SED gingen, als die Sonderzüge längst abgefahren waren, konnte man doch getrost unter Ulk verbuchen. Oder eben nicht. Jetzt also doch die erste Geige … Oder Bratsche.

Zuerst war es ein winziger schwarzer Punkt am Himmel. Er wurde langsam größer und nahm allmählich Konturen an. Die Umrisse wurden immer klarer erkennbar. Ja, richtig! Ich sah Helmut Kohl aus den Wolken heranschweben. Wie eine übergewichtige Mary Poppins hing er an einem CDU-Sonnenschirm und spielte dabei einhändig Blockflöte. Es könnte auch eine PAN-Flöte gewesen sein. Zahllose Bier trinkende DDR-Bürger reckten ihm ihre 100- und 50-Markscheine, auf denen die Köpfe von Thierse und Meckel waren, zum Umtausch gegen Bananen und Westzigaretten entgegen. Der große Helmut Poppins eroberte mit einem pfälzischen »Chim Chim Cheree« den sich kampflos ergebenden Osten. Da war nichts zu machen, denn die NVA, und damit auch ich, war ja übers Wochenende weg.

Ich bin noch eine Weile geblieben. Auf der CDU-Party. Habe mir noch ein paar Bier im Plastebecher spendieren lassen. Natürlich: Plaste! Ich lass mir doch meine Ost-Identität nicht nehmen! Und demonstrativ von der Videowand wegsehend, konnte ich doch beobachten, wie das Wahlergebnis von Hochrechnung zu Hochrechnung immer eindeutiger zu Gunsten der Konservativen präzisiert wurde. Dazu spielte weiter die gut gelaunte Gruppe »PAN«.

Es wurde Zeit zu gehen. Ich wollte nicht mehr in die Nähe der Bühne, und auf keinen Fall wollte ich mich in ein Gespräch mit der Band verwickeln. Bodo am Keyboard zählte eine Ballade ein, einen Klassiker, den ich von »Simply Red« kannte und sehr mochte. Die Band sang nur für mich. Nicht wissentlich, nur ich allein wusste, dass das Lied für mich bestimmt war. Helmut Poppins hatte ja außer mir auch niemand gesehen. Noch von weitem konnte ich den tadellosen Satzgesang hören: »If you don’t know me by now / You will never never never know me / u-hu-hu-hu-huuu ...«

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal