Gegen die Halunken aus dem Lehrerzimmer!

In Berlin wird an den »Aufstand der Jugend« erinnert, mit dem Isidore Isou vor 65 Jahren die Welt erschüttern wollte.

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 7 Min.

Als 14-Jähriger hätte ich etwas darum gegeben, diese Sätze zu lesen: »Rebelliert gegen Lehrer und Aufpasser! ... Jeden Tag lasst ihr stöhnend eure Herren, eure Besitzer Deppen aus euch machen. Unter dem Vorwand der Erziehung versauen sie euch ›die schönsten Jahre eures Lebens‹. ... Vereinigt euch in euren Schulen gegen die Halunken eurer Aufpasser und Lehrer.«

Aber es ist unwahrscheinlich, dass, als solches um 1950 zu lesen war, allzu viele 14-Jährige davon Wind bekommen haben. Denn die Sätze stammen von Isidore Isou, dem bestgehassten Künstler und Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts. Noch heute, ich habe es selbst erlebt, schäumen Akademiker vor Wut, wenn auch nur ein Werk dieses Mannes aufgeführt wird. Und außer den Akademikern kennt bis heute fast niemand seine Aktionen und Ideen.

Als Isou mit ein paar Mitstreitern zum »Aufstand der Jugend« aufrief, war er selbst erst 25. Seinen ersten Roman, seine ersten Skandale, seinen ersten Prozess und seine erste Verurteilung (wegen Pornographie) hatte er bereits hinter sich. André Breton urteilte väterlich, der »Aufstand der Jugend« sei der einzig gute Einfall, den der junge Mann gehabt habe. Das war nicht gerecht, denn Isou sprudelte über von Einfällen. Er erfand den Lettrismus, eine universelle Zeichenkunst, die Kladologie, eine universelle Wissenslehre, er schuf Symphonien aus Schreien, Filme aus bekratzten Zelluloidresten. Aber, darin ist Breton zuzustimmen, auch der »Aufstand« hat einiges für sich.

Was es ist, lässt sich am bequemsten einem Manifest entnehmen, das nun zum ersten Mal auf Deutsch erscheint. Ganz ähnlich den Marxisten sieht Isou unsere Gesellschaft von einem Markt bestimmt. Und ähnlich den Marxisten stellt er zwei Gruppen einander gegenüber: die Eigentümer und die Ausgebeuteten. Doch geht es für ihn nicht darum, wer auf dem Markt ausgebeutet wird, sondern wer überhaupt auf den Markt kommt. Die wahren Ausgebeuteten seien diejenigen, die keine »Agenten« am Markt sind. Es seien diejenigen, die keine Arbeit oder nur Sklavenarbeit leisten dürfen, diejenigen, für die andere die Entscheidungen treffen, es seien vor allem die Jungen.

Die Jungen, schreibt Isou, »sind die Sklaven, die Werkzeuge, der Luxus, das Eigentum der andern, und zwar unabhängig von ihrer Klasse, denn sie haben nicht die ›freie Wahl‹, ihre Familie entscheidet für sie. Von ihrer Nichtexistenz rührt ihre Revolte. Sie wollen Wahre Unabhängigkeit erreichen. Denn sie bilden eine in sich geschlossene Masse, die außerhalb des (internen) Austauschs der Agenten steht, und ›Agent‹ ist hier gleichbedeutend mit Renditen und Gütern.«

Isou wäre nicht Isou, hätte er diesen einfachen Gedanken nicht in drei Bänden aufs Gelehrteste ausgearbeitet. Am Ende des dritten Bandes schreibt er, hingerissen von sich selbst: »Ich beende dieses Buch, indem ich an den denke, der diese Konzepte in der Welt durchsetzen wird und der, wie Paulus für Jesus, Robespierre für Rousseau oder Lenin für Marx, der Paulus, der Robespierre, der Lenin von Isidore Isou sein wird.« Dieser amüsante Größenwahn hat erheblich zur Unbeliebtheit des Mannes beigetragen, insbesondere bei den erwähnten Akademikern, die krampfhaft ihren eigenen Ehrgeiz verbergen müssen.

Davon abgesehen, ist nicht zu begreifen, weshalb Isou dem bürgerlichen und breiten Publikum so missfiel. Denn trotz seines revolutionären Elans ist er nicht gerade revolutionär. Er ist nicht links, er ist liberal, an der Ausbeutung will er nicht rütteln. Es geht ihm lediglich darum, außerhalb der kapitalistischen Vermarktung Stehende - die Jugendlichen, aber auch die Migranten, die Strafgefangenen, die Künstler und andere -, die er »Externe« nennt, auf den Markt zu bringen. Aus Externen sollen Interne werden, aus Sklaven Mitarbeiter.

Die Maßnahmen, die er vorschlägt, sind deshalb reformistischer Art: Verkürzung der Schulzeit, Abschaffung des Abiturs, Steuersenkung, Startkapital für Jungunternehmer. Das ist kein linkes Programm. Dennoch bietet der »Aufstand der Jugend« wertvolle Anregungen für Linke.

Das sieht leicht ein, wer Isous Lehre mit einer marxistischen jener Zeit vergleicht. Henri Lefebvre formulierte damals sehr hübsch: »Der Jüngling, das Stadium des Jünglings, ist ein Entwurf der Moderne. Die Bourgeoisie treibt ihn bis zu seinen äußersten Konsequenzen: dem Ewig-Jugendlichen.« Diese Analyse ist zweifellos korrekt. Noch meine Eltern haben die Schule mit 15 beendet, dann gearbeitet und eine Familie gegründet, Jugendliche waren sie nie wirklich. So oder so ähnlich ging es jahrhundertelang, zumindest bei den Unteren, so oder so ähnlich geht es noch heute in vielen, wenn nicht den meisten Teilen der Welt: Man ist Kind, man arbeitet, man stirbt. Der Jugendliche ist ein bürgerlicher Entwurf.

Jedoch greift Lefebvre zu kurz, wenn er die Jugend bloß für ein Wunschbild verhärmter Alter hält. Tatsächlich hat sich, wie er selbst einräumt, im aktuellen Kapitalismus die Lehrzeit enorm ausgedehnt. Dadurch hat sich aber eine gesellschaftliche Gruppe herausgebildet, die immer länger auf der Wartebank ausharren muss, denken wir an die ewigen Praktikanten bei uns oder an die 53,5 Prozent arbeitsloser Jugendlicher in Spanien oder denken wir einfach an diejenigen, die 20 Jahre und länger an Schule und Universität schmachten müssen. An all diese Menschen wendet sich Isou.

Aber nicht nur der Jugendliche ist ein »Externer«, jeder Außenseiter ist es. So finden sich Keime für Isous politisches Denken bereits in seinem ersten Roman, »Agrégation d’un nom et d’un messie« (wörtlich »Zulassung eines Namens und eines Messias«), in dem es gar nicht um Jugendliche geht, sondern um Juden, insbesondere um einen bestimmten Juden. Es geht, kaum verhüllt, um das Schicksal von Isou selbst, bürgerlich Jean Isidore Goldstein, der im faschistischen Rumänien aufwuchs, früh die Schule verließ, den Widerstand unterstützte, von den Deutschen zum Arbeitsdienst gezwungen wurde und bei der ersten, besten Gelegenheit nach Paris floh.

Dagegen, dass so viele am Rand stehen, hat Isou gekämpft, der selbst am Rand stand. An dieser Außenseiterposition hat er seinen enormen Größenwahn ausgeprägt. Er war ein ganz Kleiner, der so tat, als wäre er ein ganz Großer. Er bettelte nicht um seinen Platz, er behauptete ihn. »Ich hatte keinen Beruf, deshalb hinderte mich keine Beschäftigung daran, der größte Mensch meiner Zeit zu sein.«

Es wird nicht jedem gefallen, dass Isou in seinem Roman und anderswo den »Erfolgsmenschen« feiert und behauptet, nur dieser besitze eine Vergangenheit und eine Zukunft. Wer erfolgreich ist, handelt klug, um seinen Erfolg kein Gewese zu machen. Wer dagegen erfolglos ist, handelt unklug, wenn er sich mit Almosen bescheidet. So wurde der kluge Isou, der es, das ist das Liebenswerte an ihm, immer stark übertrieb, zur grellsten und kecksten Stimme der Juden, der Migranten, der Herumgeschubsten, der Jungen. Er wollte nicht sein Stück vom Kuchen, er wollte den Kuchen. Jedem Asylbewerber, der auf seine Arbeitserlaubnis wartet, sollte man einen Band Isou in die Hand drücken. Doch haben, wie gesagt, nicht viele, die es angeht, vom »Aufstand der Jugend« gehört, gebeutelte 14-Jährige nicht und andere Unterdrückte dieser Erde ebenso wenig.

Immerhin wollte der anarchistische Künstler Maurice Lemaître der Paulus, Robespierre und Lenin von Isou sein; er kam nicht sehr weit damit. Und immerhin schickte schließlich doch ein 14-Jähriger Isous Gruppe einen Brandbrief: »Vielleicht finden Sie unsere Sklaven-Klagen kindisch und kleinlich angesichts der Lohnfrage (wo es um zwei oder drei Franc mehr pro Tag geht). Aber Sie, meine Herren, sollten sich davon überzeugen, dass wir leiden wie das Vieh, ein vollkommen ehrloses, würdeloses Leid, das wir nicht länger ertragen.« Kann schon sein, dass aus dem jungen Mann ein Notar oder ein Börsenmakler geworden ist, aber in diesem Moment seines Lebens war er fast ein Aufständischer.

Im Rahmen von »48 Stunden Neukölln« wird Sylvain Monségu am 27. Juni, ab 20 Uhr, über Isidore Isou und den »Aufstand der Jugend« sprechen. Galerie La Plaque Tournante, Berlin, Sonnenalle 99. Der Vortrag ist in englischer Sprache, Eintritt frei.

Bei dieser Gelegenheit wird ein A-3-Plakat mit der ersten deutschen Übersetzung von Isous Manifest (übersetzt von Stefan Ripplinger) vorgestellt, das für einen Euro in der Galerie (oder, zuzüglich Porto, via www.laplaquetournante.org) erhältlich ist.

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