Die Spur führt nach Santiago

Isabel Leyla Erdem: Packender Politkrimi vor dem Hintergrund chilenisch-deutscher Beziehungen

  • Jürgen Seidel
  • Lesedauer: 3 Min.

Alles beginnt ganz harmlos und unscheinbar. Da bekommt die junge Rechtsanwältin Hannah, die als Anwaltsgehilfin in einer Kanzlei jobbt und gleichzeitig eine Dissertation über die internationale Rechtshilfe zwischen Deutschland und Lateinamerika schreibt, die Information über einen in einer kleinen Emigrantenzeitschrift erschienenen Artikel über eine Gruppe namens »Estroja roja«. Die deutsche Übersetzung dieser beiden spanischen Worte lautet »Roter Stern« und dabei handelt es sich offenbar um eine chilenische Guerillagruppe, nach der international gefahndet wurde, weil sie auch international aktiv war. Verfasser des übrigens mehr als 30 Jahre alten Textes ist ein gewisser Miguel Meyer. Und der ist identisch mit Michael Meyer, Jahrgang 1957, Bundestagsabgeordneter mit einer spannenden Biografie, der allerdings nicht mehr am Leben ist. Suizid. Ein Jahr zuvor. Durch Sprung in die Tiefe von einer Brücke im Paul-Löbe-Haus des Bundestages. Wahrscheinlich Suizid. Oder doch nicht. Aber das sollte Hannah erst sehr viel später, fast 200 Seiten später erfahren.

In ihrem ersten Roman verknüpft die junge Berliner Autorin, die selbst Juristin ist und in ihrem richtigen Leben über politische Strafjustiz promoviert, die Geschichte von Hanna und ihrem behinderten Sohn Mirko mit ganz großer, allerdings zunächst recht undurchsichtiger und weit in die Vergangenheit reichender Politik. Es geht um die Beziehungen zwischen der alten Bundesrepublik und Chile unter Diktator Pinochet, der sich am 11. September 1973 gegen den gewählten sozialistischen Präsidenten Dr. Salvador Allende an die Macht geputscht hatte. Mehrere Tausend Chilenen flüchten unter anderem nach Deutschland, ein Teil von ihnen in die DDR, ein anderer Teil in die BRD.

Kurz nach dem Putsch wird im Mai 1976 die chilenische Botschaft in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn angegriffen. Es gibt drei Tote: den Botschafter, seinen Fahrer und auch seinen 12-jährigen Sohn. Jahrzehnte später - wir sind jetzt wieder in der Gegenwartshandlung des Buches von Isabel Leyla Erdem - wird einem der mutmaßlichen Attentäter von damals der Prozess gemacht. Hannah, die inzwischen tief in die deutsch-chilenische Vergangenheit und in die von Dr. Michael Meyer eingestiegen ist, besucht im Gefängnis in Köln Ramón Rodríguez, gegen den seit 1994 bereits im vierten Anlauf vor dem Landgericht Bonn wegen des Anschlages auf die chilenische Botschaft verhandelt wird. Allerdings scheint damals doch ein ganz anderer geschossen zu haben. Aber wer?

Doch bis diese Frage beantwortet wird, wird auch klar, dass der Abgeordnete Dr. Meyer als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums, das die Geheimdienste überwachen soll, mehr wusste, als er wissen sollte. Und offenbar treffen sich eben in diesem Gremium die beiden Handlungsstränge des Erdem-Buches: die Lebensgeschichte von Dr. Meyer und das Botschafts-Attentat. Außerdem spielen ein in kyrillischen Buchstaben geschriebenes spanisches Tagebuch, diplomatische Auseinandersetzungen zwischen Chile und den beiden deutschen Staaten sowie Unstimmigkeiten zwischen BND und Verfassungsschutz und eine Kindesentführung eine nicht unwichtige Rolle.

Mit vollem Namen heißt die junge Anwältin im Übrigen Hanna Arndt, was ein bisschen so klingt wie Hanna Arendt. Und das ist sicher kein Zufall. Ebenso wenig wie ein gegen Ende des Romans zu findender Satz von Ramón Rodríguez: »Lassen Sie mich mit Ihrem Rechtsstaat in Ruhe, ich kenne ihn persönlich.« Ein spannender Politkrimi mit mindestens zwei überraschenden Wendungen am Ende. Absolut lesenswert.

Isabel Leyla Erdem: Hasta Siempre, Bruder. Tod im Bundestag. Roman. EDITION digital. 292 S., br., 9,90 €.

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