Entspannung nicht in Sicht

Nach der S-Bahn-Entgleisung von Hoppegarten: Ein Blick auf die Fuhrparklage des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.
Aufgrund von Problemen mit einer Baureihe aus den 1980er Jahren fährt die Berliner S-Bahn derzeit mit einem Unterbestand von 15 Viertelzügen. Auch bei U- und Straßenbahn läuft es derzeit nicht gut.

Die Nieten in der S-Bahn-Lotterie am Mittwoch lauteten S 1, S 3 und S 5. Auf diesen Linien fielen Fahrten aus, und zwar deswegen, weil einfach nicht genug Wagen zur Verfügung standen. »531 Viertelzüge plus zehn Reservezüge«, so viel Wagenmaterial soll werktäglich auf dem Netz unterwegs sein, sagt Elke Krokowski vom Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB). 516 der aus je zwei Wagen bestehenden Viertelzüge fuhren am vorvergangenen Freitag tatsächlich, am vergangenen Montag waren es sogar nur 509 Züge. Seit der S-Bahn-Krise erhält der VBB einen täglichen Rapport zur Fuhrparklage.

»Wir fahren mit einem Unterbestand von zehn bis 15 Viertelzügen«, sagt S-Bahn-Sprecher Ingo Priegnitz. Momentaner Hauptgrund für die Knappheit seien Probleme mit der unter Regie der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) in den 1980er Jahren entwickelten Baureihe 480. Es seien Risse in den Drehgestellen aufgetreten, deren Reparatur nicht aufgeschoben werden könne. Andere Wagen seien so viele Kilometer gefahren, dass gesetzlich vorgeschriebene große Revisionen durchgeführt werden müssten. Hinzu kommen viele Unfallfahrzeuge: »Das sind nicht nur die Wagen von der Entgleisung in Hoppegarten, auch bei den Stürmen im Frühjahr wurden viele Fahrzeuge stark beschädigt«, sagt Priegnitz. Das Unglück in Hoppegarten trifft die S-Bahn gleich doppelt. »Es waren 24 Stunden Werkstattmitarbeiter aus Wannsee im Einsatz, die eigentlich in der Zeit dort Fahrzeuge repariert hätten«, erklärt Priegnitz. Bis zum Herbst will man bei der S-Bahn jedoch aus dem Gröbsten raus sein.

Eine nachhaltige Entspannung der Fahrzeugsituation bei der S-Bahn ist jedoch noch lange nicht in Sicht. Erst wenn die in gewohnt dilettantischer Berliner Manier durchgeführte Ausschreibung des Ringbahnbetriebs unter Dach und Fach ist, können neue Wagen ausgeschrieben werden. Bis die dann entwickelt und erprobt sind und in nennenswerter Anzahl auf der Schiene stehen, werden noch Jahre ins Land gehen.

»Wir haben eine angespannte Situation, aber keine Krise«, schätzt Ingo Priegnitz die Lage ein. Elke Krokowski vom VBB teilt die Ansicht, etwas Sorge bereitet ihr aber die Ende August anstehende dreimonatige Sperrung der Stadtbahn für Fern- und Regionalzüge. In dieser Zeit wird nur die S-Bahn zwischen Zoologischer Garten und Ostbahnhof verkehren. Stark steigende Passagierzahlen werden in den nächsten Jahren die Kapazitätsprobleme zusätzlich verschärfen, fürchtet Krokowski.

Allein die U-Bahn hat im Jahr 2014 insgesamt 24 Millionen Fahrgäste mehr befördert als im Jahr davor; das entspricht einer Steigerung um fast fünf Prozent. Doch auch dort reichen die Wagen schon seit Jahren nicht mehr aus. Besonders im Großprofil, das die U-Bahn-Linien U5 bis U9 umfasst, fahren immer wieder Züge mit vier statt sechs Wagen oder fallen ganz aus. Da ist ungewolltes Kuscheln angesagt.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Es wurden in den vergangenen 20 Jahren mehr Wagen ausgemustert als neu gekauft, so dass die Flotte um ein Viertel geschrumpft ist. Und die verbleibenden Züge werden immer älter und störanfälliger und stehen öfter in der Werkstatt als geplant. 2002 wurden die letzten neuen Wagen für das Großprofil geliefert. »Wir haben bereits 2010 gesagt, dass dringend neue Züge beschafft werden müssen«, sagt Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB. Doch der damalige Finanzsenator Ulrich Nußbaum stellte kein Geld zur Verfügung.

Um die Not zumindest teilweise zu lindern, plant die BVG, einige Züge der für die U 1 bis U 4 bestellten Baureihe IK für das Großprofil zu adaptieren. Auffälligste Änderung werden seitliche Profile sein, um den Spalt zwischen Zug und Bahnsteigkante zu reduzieren; Kleinprofilzüge sind nämlich 35 Zentimeter schmaler als die Züge des Großprofils. Eine Lösung, die bereits in der Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg praktiziert wurde. Der schöne Name dafür lautete »Blumenbretter«.

Ebenfalls auf eine wahrhaft historische Lösung dürfen sich die Passagiere der kurzen U 55 zwischen Hauptbahnhof und Brandenburger Tor freuen. Im Moment wird ein Museumszug der 1999 ausgemusterten Baureihe D fit gemacht, um das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden: Man will 60er-Jahre-Flair verbreiten und einen zusätzlichen Zug für das restliche U-Bahn-Netz freimachen. Leider keine ausbaufähige Lösung, die restlichen Wagen wurden entweder verschrottet oder nach Nordkorea verkauft. Bis tatsächlich neue Fahrzeuge für das Großprofil kommen, werden allerdings noch einige Jahre ins Land gehen. Es gibt bisher weder eine Finanzierung noch eine Ausschreibung.

Am schnellsten dürften die Probleme bei der Straßenbahn behoben sein, wo auch regelmäßig Fahrten ausfallen. Hier liegt es aber nicht an fehlenden Fahrzeugen, sondern an Fahrern. »Die Rente mit 63 hat uns kalt erwischt«, sagt BVG-Sprecherin Petra Reetz. Viele Straßenbahnfahrer nutzten die Gelegenheit und so entstanden Lücken im Dienstplan. »Wir bilden aber verstärkt aus«, beteuert Reetz und verspricht, dass bis Jahresende wieder genug Fahrer zur Verfügung stehen.

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