Von Divas, Blutsaugern und Massenmorden

Das Filmfest Il Cinema Ritrovato in Bologna: Schützengräben, Diven-Filme und der Genozid an den Armeniern

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine Filmreihe über eine Bande von Räubern und Mördern, die sich »Vampire« nennt, zeigt wahrscheinlich ziemlich gut die allgemeine Verunsicherung, die täglich die Erfahrung eines Weltkriegs mit sich bringt. »Les vampires«, eine zehnteilige Kinoserie mit Laufzeiten von meist unter, mal aber auch von deutlich über einer Stunde (abhängig davon, wie viel Filmmaterial in Kriegszeiten gerade zu beschaffen war), erreichte die Pariser Kinos im November 1915. Beim gerade zu Ende gegangenen »Il Cinema Ritrovato«, dem Filmfest der wiedergefundenen Filmschätze in Bologna, eröffnete die Serie jeden Morgen die traditionelle Programmsparte »Kino vor 100 Jahren«.

Nicht das Böse, nein, das Allerschlimmste sei das erklärte Ziel der Bande, lautete die Werbung, die die Produktionsfirma Gaumont (ihrerseits in diesem Jahr stolze 120 Jahre alt geworden) in den Zeitungen schalten ließ. Und an den Wänden der Stadt klebten Plakate, auf denen maskierte Gestalten ein Fragezeichen als Schlinge um den Hals trugen, das die Fragen »Wer, was, wann, wo?« punktierte. Fragen, die man sich angesichts eines menschenverschlingenden Stellungskriegs und des Schicksals der eigenen Lieben ohnehin tagtäglich stellen musste. Giftgas und Gasmasken jedenfalls, die Waffen, Sprengsätze und sonstigen schaurigen Effekte, die bei den Einbrüchen der »Vampire« zum Einsatz kommen, die kannte man von den Zeitungsseiten, die sich mit dem Kriegsverlauf beschäftigten.

Warum die tägliche Angst also nicht lieber auf einen Kinobesuch umlenken, wo am Ende vielleicht doch die Chance bestand, dass der tüchtige Journalist Guérande und sein pfiffiger Helfer Mazamette den Vampiren den Garaus machen würden? Louis Feuillade, Regisseur der Serie (und in späteren Jahren ein Großmeister der Serienform), musste seine Figuren verschwinden oder sterben lassen, wenn wieder einer der Darsteller zum Kriegsdienst einberufen wurde, was der kriminellen Bande einen satanischen Anführer nach dem anderen bescherte. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Episoden sich unterscheiden, was Qualität und Spannungsbogen angeht - wo die große Politik und das Schlachten an den Kriegsschauplätzen den Verlauf der Kino-Unterhaltung bestimmen, kommt man mit einem vorbereiteten Drehbuch nicht sehr weit. Weshalb es ein solches wohl auch nicht gab. In Italien verlegte sich die Weltflucht auf spektakuläre Zirkusabenteuer (die Hochseilszenen aus »Il jockey della morte«, gedreht vom dänischen Multitalent und Italien-Import Alfred Lind, muss man gesehen haben, um zu glauben, dass so etwas 1915 technisch bereits möglich war) und auf - die Diva. Die Femme fatale, die in Modellkleidern, mit Perlenschnüren, Reiherfedern im Haar und Lebensüberdruss in den Augen Verwüstungen unter den Junggesellen und braven Ehemännern der Gesellschaft anrichtet, erlebte in den Großproduktionen der Jahre 1915/16 eine wiederholte Inkarnation, die sich wie schweres Parfüm auf das Bewusstsein legt. In Bologna gab es neben dem Gesamtkunstwerk »Rapsodia satanica« von Nino Oxilia (mit einer ausgeklügelten Farbdramaturgie und einer speziell komponierten Partitur von Pietro Mascagni) noch den teilüberlieferten »Tigre reale« von Giovanni Pastrone nach einer Vorlage von Giovanni Verga zu sehen, mit Pina Menichelli als russischer Gräfin, die mit ihren ehebrecherischen Leidenschaften erst einen polnischen Studentenrebellen in den Tod treibt und dann einen italienischen Lebemann seiner Familie entfremdet.

Wie es derweil auf den Schlachtfeldern zuging, war in den filmischen Hinterlassenschaften von Albert Samama Chikly zu sehen, einem jüdischen Filmemacher aus Tunesien, der in Bologna dem Vergessen entrissen wurde. Wie es in Verdun aussah nach dem großen Schlachten, wie der französische Staat die tunesischen Machthaber beim Sightseeing-Programm in Paris zu beeindrucken suchte, damit sie weiter Menschenmaterial lieferten, all das zeigen seine Filme. Der Genozid an den Armeniern fand noch einmal statt auf den Bologneser Leinwänden, und mit Reginald Barkers »The Despoiler« von 1915 war ein besonders drastischer Propaganda-Spielfilm über die moralisch aufrechten einheimischen Christen und den deutschen Befehlshaber zu sehen. Der bringt die ihm unterstellten muslimischen Truppen gegen die christlichen Glaubensbrüder in Stellung - konform der internationalen Kriegspolitik des Deutschen Reichs, das auf seinen türkischen Verbündeten zählte, um die Muslime in den britischen und französischen Kolonialreichen zur Rebellion zu bewegen. Und verliert dabei die eigene Tochter, die sich dem Krieger-Khan hingibt, um die anderen Christinnen vor der Schändung durch seine Soldaten zu bewahren.

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