Wir Ostmenschen?

Burga Kalinowski wollte von prominenten DDR-Bürgern wissen, was sie sich von der Wende 1989 erhofft hatten

  • Christel Berger
  • Lesedauer: 4 Min.

Schon der Titel mit dem ominösen »Wir« verwundert, lässt sich doch heutzutage keiner gern unter einer Einheitsformel subsumieren. Im Vorwort behilft sich Burga Kalinowski mit der Bezeichnung »Ostmenschen«, und auch das bringt mehr Unterschiedlich- als Gemeinsamkeit ins Spiel. DDR-Erfahrung, Wendewünsche und Träume - und das nach 25 Jahren bedacht? Was verbindet beispielsweise den früheren Bürgerrechtler und Theologen Hans-Jochen Tschiche mit der früheren Rektorin der Hochschule für Ökonomie, Christa Luft, was gar den 1970 geborenen Busfahrer und Discjockey Mario Walter mit dem Neurochirurgen Siegfried Vogel oder dem Ex-Ministerpräsidenten Manfred Stolpe? Freilich, alle haben sie in der DDR gelebt, aber doch sehr verschiedene Erfahrungen gemacht. Manche hätten in der DDR kaum etwas miteinander zu tun haben wollen. Freilich spielt es auch eine Rolle, ob einer 1971 wie der Chemiker Daniel Rapoport, der alles sehr entspannt sieht, geboren ist oder 1929 wie Hans-Jochen Tschiche.

Irgendwann ist Burga Kalinowski mit ihrer Journalisten- und Menschenneugier auf sie gestoßen und wollte wissen, was sie »damals« hofften, wie sie sich fühlten und was sie heute denken. Die »Wende« damals und heute steht im Mittelpunkt ihres Interesses. Da wird erzählt, philosophiert, reflektiert, und immer ist Burga Kalinowski als verständnisvolle Begleiterin dabei. Gerhard Wolf erinnert sich mit Hilfe der Tagebücher seiner Frau Christa. Viele Künstler sind darunter: Peter Bause, Matthias Brenner, Nico Hollmann, Rainer Kirsch, Steffen Mensching, Gisela Oechelhaeuser, Ronald Paris, Walfriede Schmidt, Jutta Wachowiak, Hans-Eckardt Wenzel, Gerhard Wolf. Einige Interviews kennen die Leser dieser Zeitung bereits.

Alle haben es sich nicht leicht gemacht, diese Erfahrung ihres Lebens zu verarbeiten. Viele begründen ihr Unbehagen in der DDR mit dem klaffenden Widerspruch zwischen Anspruch und Realität und der Erfahrung, nichts ändern, nichts einbringen zu können. Keinen störte der materielle Mangel. Nicht reisen zu können, gegängelt zu werden und nicht die Wahrheit gesagt zu bekommen, sind weitaus häufiger genannte Ärgernisse. Bezeichnenderweise sind es die beiden Ausländer, der Amerikaner Victor Grossman und die Chilenin Alicia Garay-Garate, die zuerst und schon in der Wendezeit um das Verschwinden der sozialen Verhältnisse und der antifaschistische Grundhaltung der DDR bangten. Hätten sie sich untereinander gekannt, wäre es fast zu einem Treffen von über der Hälfte der 27 Interviewten am 4. November 1989 auf dem Alex gekommen. Von großen Hoffnungen, Aufatmen ist die Rede, aber auch viel von Naivität.

Dass sie sich alle wie der Bischofferoder Bergarbeiter Willibald Nebel oder der Berliner Maschinenbauer Arno Kiehl als Verlierer begreifen, stimmt nicht. Für den Fernsehjournalisten Hellmut Henneberg begann mit der Wende eine fantastische Arbeitszeit, die Landschaftsgestalterin Isolde Paris konnte nun verwirklichen, was ihr in der DDR nie gelungen wäre, und Michael Diestel behauptet gar: »Die Wende hat für mich genau das gebracht, wofür ich in die Politik gegangen bin.« Nun konnte er Anwalt werden, nun konnte er seinen maßvollen Anarchismus ausleben, ohne um die Existenz fürchten zu müssen. Ist das »Wir« im Titel also ein falsches Etikett, weil die Verschiedenheiten überwiegen?

Fast scheint es so, und doch - eine Rezension in der »Taz« lässt sich nicht täuschen und mokiert sich über so viel einheitliche Ideologie, denn da schimmert etwas durch, das diese »Ostmenschen« für den Mainstream anrüchig macht. Sie alle nutzen ihren eigenen Kopf, sind kluge, nachdenkliche Leute und plappern nichts Vorgegebenes nach. Sie gucken genau hin, was heute ist. Als die Herausgeberin auf dem Weg zu Manfred Stolpe war, stand an einer Häuserwand »Kapitalismus ist doof«. So simpel würde das zwar keiner der Befragten bestätigen, aber eine dezidiert kritische Haltung ist da schon. Walfriede Schmidt sagt: »Ich kann nicht an die Wende denken, ohne das Heute mit in Betracht zu ziehen ... Das Ergebnis ist deprimierend.«

Absehend von der ganz persönlichen Befindlichkeit blicken alle über den eigenen Tellerrand hinaus und sorgen sich um die gesellschaftliche Entwicklung - die Kriege, die soziale Kälte, die Herrschaft des Geldes, die existenzielle Unsicherheit. Das »Wir« ist insofern berechtigt, auch wenn es sich leider nicht um eine mehrheitsfähige Größe handelt. Die »große Masse«, von der manchmal in den Gesprächen die Rede ist, denkt wohl anders, beziehungsweise: Denkt sie überhaupt?

Burga Kalinowski War das die Wende, die wir wollten? Gespräche mit Zeitgenossen. Verlag Neues Leben, Berlin 2015. 319 S., geb., 19,99 €.

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