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Unerträgliche Unschuld

In seinem letzten Roman ist E. L. Doctorow in der schlichten Gegenwart angekommen

Ein Therapiegespräch, in dem der Patient mal in der ersten, mal in der dritten Person von sich spricht. Er hört Stimmen, beschreibt Situationen, von denen er nicht genau weiß, ob er sie erlebt oder geträumt hat. Seinen Arzt hält er mal für die CIA, mal für einen »Psychiater im Auftrag der Regierung«; über sich selbst will er wissen: »Sagen Sie Doc, bin ich ein Computer?« Das ist Andrew wohl nicht, sondern ein Kognitionswissenschaftler auf der Suche nach dem Geheimnis unseres Bewusstseins. Jedoch träumt er von einem Mega-Computer, der »den Code jeder Zelle von jedem anderen menschlichen Gehirn knacken und die Toten aus ihren Erfahrungen rekonstruieren« und somit geliebte Menschen aus dem Jenseits zurückbringen kann.

Wie so oft liegen Genie und Wahnsinn dicht beieinander und passen den Herrschenden nicht ins Konzept. »Denn wenn wir herausfinden, wie das Gehirn uns ein Bewusstsein gibt, dann wissen wir auch, wie man Bewusstsein reproduziert«, sagt Andrew, der es vorübergehend zum »Direktor des Phantom-Amtes für neurologische Forschung des Weißen Hauses« bringt. Er deutet an, dass man dann weder den überforderten, selbstgerechten Präsidenten, noch seine beiden korrupten Faktoten mehr braucht. Ganz sicher ist der Protagonist ein genialer Analytiker und nicht irrer als die Realität. »Wenn ich wahnsinnig werden könnte, wäre das bestimmt besser, als in dieser meditativen Einsamkeit bei klarem Verstand zu sein«, schreibt er für seinen Therapeuten auf - angeblich an einem norwegischen Fjord, wo er aber wiederum eigentlich gar nicht sein kann, da er ja in der Erzählgegenwart, der Jetztzeit, »lebenslänglich« in der Psychiatrie weggesperrt ist.

Die Romane des großartigen Erzählers E. L. Doctorow, der im Juli in New York verstarb, waren meist in der jüngeren Vergangenheit angesiedelt, ohne dabei »historisch« zu wirken. Wie zur Erklärung lässt er die Hauptfigur sagen: »Ich bin immer auf die Geschichte meiner Zeit eingegangen. Ich habe mich immer um den Kontext meines Lebens gekümmert.« Mit seinem letzten Werk »In Andrews Kopf« ist Doctorow in der Gegenwart angekommen und beschreibt, wie ein Mensch in und mit der US-amerikanischen Gesellschaft am Trauma des 11. September 2001 zerbricht. Es mögen die zeitliche Nähe und die Bedeutung des Ereignisses sein, die dem Werk nicht gut tun und ein Sendungsbewusstsein aufflackern lassen, das man von dem Autor von »Homer & Langley« oder »Weltausstellung« nicht kannte.

Zwar möchte man sich auch diesmal Sätze einrahmen und an die Wand hängen, etwa diesen: »Die Berge gebieten über das Licht, es kommt erst zu dir, wenn sie es bewilligt haben.« Doch ist der Inhalt häufig grob geschnitzt, viel zu vieles schwarz oder weiß, schuldig und unschuldig. So verfügt Andrew, wie es scheint, über ein zerstörerisches Potenzial. Schon als Kind verursacht er einen Unfall mit Todesfolge, und ein kurzbeiniges Hündchen überlebt nicht lange an seiner Seite. Als Erwachsener macht er durch eine Verkettung von Missgeschicken bei einer Party »in nur einer Minute ... eine ganze Familie platt«. Sein Baby aus erster Ehe stirbt, weil er ihm die falsche - vom Apotheker verwechselte - Medizin verabreicht, seine Frau Martha bleibt »unheilbar beschädigt«, die Beziehung scheitert.

Die vorübergehende »Heilung« verdankt er seiner zweiten, seiner großen Liebe, einer blutjungen, blonden und blauäugigen Schönheit, »die mich mit ihrer Wesensstärke vollständig verwandeln, so etwas wie einen normalen, funktionierenden Bürger dieser Welt aus mir machen konnte«. Beinahe unerträglich sind die wiederholten Beschreibungen Brionys als engelsgleiche bis madonnenhafte Unschuld. Da sind »ihr schönes, ehrliches, liebreizendes junges Gesicht ohne Falsch, ohne Geheimnisse«, »ihre moralische Schönheit, ihre natürliche unverbildete Tugendhaftigkeit«, ihre »schlichte, sauber gewaschene Schönheit« und ihr »reines Wesen, das aus ihren blauen Augen leuchtete«, ganz im Gegensatz zu einer Dame aus dem präsidentialen Bekanntenkreis mit »keramisiertem« Gesicht und Haaren »glänzend und steif wie mit Schellack überzogen«. Kaum bekommt Briony ihrerseits ein Baby, wird daraus »eine Mutter mit ihrem Kind, ein heiliger Ritus der Natur« oder gar »eine königliche Prozession«. Schlimmer noch bezeichnet Andrew Briony als sein »armes unschuldiges Mädchen«, das sich manchmal »wie ein eigensinniges Kind« benehme, und meint, wenn er davon träumt, »meinen beiden Mädchen« Mark Twain vorzulesen, nicht seine beiden Kinder, sondern den Säugling und die erwachsene Frau.

Folgerichtig ist auch Andrews Liebe zu Briony »so rein und unkompliziert«, dass er nicht einmal mehr Angst hat, ihr könne durch seine Schuld etwas zustoßen. Doch dann kommen »diese Nachrichten, die anscheinend immer anderswo und anderen Leuten passierten. Nur damals nicht, als sie mir passierten. Als sie schließlich mir passierten ...« Schuld ist er diesmal nicht. Zumindest »nicht direkt ursächlich«, wie es am Anfang heißt und wovon später nicht mehr die Rede ist. Sondern davon: »Diese Flüge hätten nie stattfinden dürfen. Die Erkenntnisse lagen vor.« Also zum Beispiel dem Präsidenten, der natürlich Georg W. Bush nachempfunden ist.

Man bekommt ein wenig Angst, dass die Romanhandlung ein allzu schlichtes Ende finden könnte, als Andrew schließlich in Anbetracht seines verpfuschten Lebens, seines akademischen Abstieges und seiner unendlichen Einsamkeit »in die Geschichte eingreifen« will.

Was er tut, überrascht - und ändert doch nicht das Bedürfnis, sich lieber mit E. L. Doctorows älteren Werken beschäftigen zu wollen. Oder sich auf die sprachlich schönen Stellen zu konzentrieren wie jene: »Und eben ist, laut wie ein Donnerschlag, eine arme blöde Möwe auf dem Wind angesegelt und mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe geknallt. Ich wechsle einen Blick mit ihrem glasigen Auge, während sie im Schnee an meinem Fenster herunterrutscht und eine schmierige rote Trichterspur hinterlässt.«

E. L. Doctorow: In Andrews Kopf. Aus dem amerikanischen Englisch von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch. 208 Seiten, geb., 18,99 Euro.

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