Riskanter Balanceakt der Helfer

Der Gedenktag der humanitären Hilfe wirft ein Schlaglicht auf eine Tätigkeit unter Gefahren

  • Roland Bunzenthal
  • Lesedauer: 4 Min.
Der 19. August ist traditionell der internationalen Gedenktag der humanitären Hilfe. Ob Naturkatastrophen oder Kriege: Die Arbeit der Helfer ist wichtig und teils mit großen Gefahren verbunden.

Ashok Shah war der erste Helfer nach dem schweren Erdbeben in Nepal, der sich bis in das 1000-Einwohner-Städtchen Sipaghat durchschlug. Was er dort sah, schockierte selbst den professionellen Katastrophenhelfer. Die meisten Lehmhäuser waren komplett eingestürzt, überall musste man über Schutt und Leichen steigen und ein modriger Geruch lag in der Luft. Dem nepalesischen Vertreter der Christoffel-Blindenmission (CBM) war klar, dass Hilfslieferungen in der Gemeinde dringend gebraucht wurden. Ashok Shah nahm die Liste der benötigten Hilfsgüter entgegen und beauftragte die Vertreter der Dorfgemeinschaft, die Verteilung schon einmal zu planen. Als der lang ersehnte Hilfs-Lkw eintraf, überwachte er selbst, dass nicht Kinder, alte Menschen, Verletzte und Behinderte leer ausgingen.

Trinkwasser verteilen, Verletzte medizinisch versorgen und Notzelte aufbauen - nach einer Katastrophe muss es vor allem schnell gehen. Aber zugleich geht es auch darum, parallel dazu Strukturen der Selbsthilfe wiederherzustellen. Über eine fast hundertjährige Erfahrung auf diesem Gebiet verfügt die Christoffel-Blindenmission (CBM) im südhessischen Bensheim. Sie war in diesem Jahr unter anderem beim Erdbeben in Nepal, beim Wiederaufbau nach dem Taifun auf den Philippinen und bei der Überschwemmung in Malawi aktiv.

Zum Welttag der humanitären Hilfe am 19. August erinnert die CBM an diese »Helden« in der Not. CBM-Geschäftsführer Rainer Brockhaus spricht die eigentlich doppelt benachteiligte Zielgruppe seiner Organisation an: »Menschen mit Behinderungen sind bei Katastrophen oft die Ersten, die vergessen werden, und die Letzten, die Hilfe erhalten.«

In den ersten drei Monaten nach dem Erdbeben in Nepal unterstützten die CBM und ihre Partner 15 000 Menschen bei Noteinsätzen. Orthopäden und Physiotherapeuten halfen seither mehr als 2500 Verletzten und einige Ärzte operierten fast 800 Mal. Das Bestreben ist es, Behinderungen gar nicht erst entstehen zu lassen - die Bensheimer engagieren sich deshalb unter anderem in der Anti-Landminen-Kampagne. Sie unterstützen zurzeit 672 Projekte in 65 Ländern. Mit der Kampagne »Setz ein Zeichen!« mobilisiert die CBM Politiker und die Öffentlichkeit, damit Menschen mit Behinderungen bei den neuen Entwicklungszielen der UN nicht vergessen werden. Anders als in der Entwicklungshilfe geht es bei der humanitären Hilfe weniger um den Transfer von Geld und Know-how. Die spezielle Erfahrung, der persönliche Einsatz und die High-tech-Ausrüstung dienen einzig dem Zweck, möglichst rasch und effizient den Opfern erste Hilfe zu leisten.

Für die Helfer vor Ort bedeutet der Einsatz zwischen mitfühlender Soforthilfe und mittelfristigem Wiederaufbau »einen täglichen Balanceakt«. Wie hoch darf das persönliche Risiko gehen? Oft genug waren die Helfer selbst schon Opfer der rücksichtslosen Konfliktparteien. Das gilt insbesondere für die französische Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die sich vor allem in Kriegsgebieten immer wieder für die Opfer von Gewalt vor Ort einsetzt - oft unter Lebensgefahr. »Die Idee der humanitären Hilfe klingt einfach: Nothilfe rettet Leben und lindert Leid inmitten von Krieg und Gewalt«, erläutert MSF-Experte Sven Torskinn. Damit dies gelingt, müssten humanitäre Organisationen »unparteilich, unabhängig und neutral« sein, da sie nur dann von allen Konfliktparteien akzeptiert werden und den Betroffenen aller Seiten beistehen könnten. Die Wirklichkeit aber bleibt oft beträchtlich hinter diesem Ideal zurück, und Ärzte ohne Grenzen stößt immer wieder auf massive Behinderungen. Insbesondere seit dem »Krieg gegen den Terror« (2001) wird humanitäre Hilfe immer stärker als Mittel eingesetzt, um politische oder militärische Ziele zu erreichen. »Wir wehren uns seit Langem gegen diese Vereinnahmung«, betont Torskinn.

Am 9. und 10. Oktober soll ein »Humanitärer Kongress« in Berlin die Position der 19 nationalen Sektionen von MSF klären. Die Politik erschwert den Einsatz der Helfer. In Pakistan zum Beispiel verzögerten Visaschwierigkeiten die Einreise von internationalen Hilfskräften. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage in der politisch polarisierten Region konnten die Teams erst später als geplant ihre Arbeit aufnehmen. Dies erschwerte die Verteilung der Hilfsgüter. Die Teams knüpften dennoch dort Netzwerke, die für künftige Projekteinsätze wichtig sind.

Rund 4000 Ärzte, Krankenschwestern und andere Gesundheitsberufe sind für die Organisation in 65 Ländern tätig. 113 Millionen Euro an Spenden nahm 2014 allein die deutsche Sektion von MSF ein. Gut 300 Projekteinsätze verzeichnete sie. Mit der Flüchtlingskrise hat MSF ein neues Gebiet der Humanitären Hilfe. Mit drei gecharterten Schiffen werden zur Zeit Hunderte von Bootsflüchtlingen geborgen und medizinisch versorgt. »Manche die hier ankommen, haben überall am Körper Wunden und Zeichen von Misshandlungen. Sie sind sogar zu schwach, um selbst Wasser zu trinken« berichtet Florian Westphal, Geschäftsführer der deutschen Sektion von MSF. Ärzte ohne Grenzen hilft den Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind, aber auch den Menschen in ihren Herkunftländern, erklärt er. MSF ist eine der fünf großen privaten Hilfswerke weltweit. Die anderen sind Caritas, Oxfam, Save the Children und World Vision. Die Bundesbürger spendeten im vergangenen Jahr rund sechs Milliarden Euro, fünf Prozent mehr als 2013. Vier Fünftel davon diente humanitären Zwecken. 1,5 Milliarden kamen Projekten und Einsätzen in Entwicklungsländern zugute.

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