Der Görlitzer Etikettenschwindel

Initiative in der Oberlausitz wehrt sich gegen Vereinnahmung nach Niederschlesien

  • Hendrik Lasch, Görlitz
  • Lesedauer: 5 Min.
Der 21. August ist »Tag der Oberlausitz«. Seine Initiatoren wollen den Zusammenhalt der Region stärken - und wehren sich gegen deren teilweise Vereinnahmung nach Niederschlesien.

Die Grenze liegt scheinbar schon 20 Kilometer vor Görlitz. »Schlesisches Tor« steht auf einem Felsbrocken am Tunnel »Königshainer Berge« auf der Autobahn 4. Die Aufschrift legt die Vermutung nahe, dass hier die Oberlausitz endet und Schlesien beginnt. In der Görlitzer Innenstadt wird dieser Eindruck bestärkt. In vielen Lokalen wird »Schlesisches Himmelreich« aufgetischt, ein traditionelles Armeleute-Essen mit Backobst und Schweinebauch. Neben dem Rathaus steht das »Schlesische Museum«. Gegenüber dem Restaurant »Schlesische Oase« verkauft die Buchhandlung »Schlesische Schatztruhe«, deren Schriftzug in den gelb-weißen Farben von Schlesien gehalten ist, Bücher und Landkarten. Für 1,90 Euro gibt es die »Heimat Schlesien« im Maßstab 1:100 000. Unter den Wappen angeblich schlesischer Städte auf dem Kartenrand findet sich auch das von Görlitz.

All das ist Unfug, sagt Wolfgang Schubert: »Görlitz gehörte nie zu Schlesien.« Der Informatiker ist im heutigen polnischen Walbrzych und damit tatsächlich in Schlesien geboren. Später arbeitete er an der Akademie der Wissenschaften in Berlin; erst als Rentner zog er an nach Görlitz - und erlebte, wie die Stadt regional für Schlesien vereinnahmt wurde. Schubert hält dagegen. Er steht häufig mit Informationsmaterial auf Görlitzer Plätzen und spricht mit Touristen. »Viele von ihnen suchen hier ihre einstige schlesische Heimat. Ich sage ihnen, dass sie noch 35 Kilometer östlich reisen müssen.«

Görlitz, betont Schubert, gehört zur Oberlausitz, einer Region, die auf eine lange Geschichte und viele kulturelle Traditionen zurückblickt. Ihre Wurzeln hat sie in einem politischen Bund, der vor exakt 669 Jahren eingegangen wurde und an den seit vorigem Jahr mit einem »Tag der Oberlausitz« am 21. August erinnert wird. An diesem Tag schloss sich im Jahr 1346 ein halbes Dutzend Städte zum »Sechsstädtebund« zusammen. Neben Bautzen, Löbau und Zittau, Kamenz und dem heute in Polen liegenden Lauban war darunter auch Görlitz.

Danach wechselten in der Oberlausitz zwar die Regenten: Bis 1635 unterstand sie der böhmischen Krone; dann kam das Gebiet zu Sachsen. Der Städtebund aber bestand weiter. Erst mit der Neuaufteilung Europas nach dem Sieg gegen Napoleon änderte sich das. 1815 wurde Sachsen gerupft, die Oberlausitz geteilt: Görlitz und Lauban fielen an Preußen.

Von Schlesien war allerdings auch zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede; vielmehr entstand eine »Markgrafschaft Preußische Oberlausitz«, zu der sich viele Orte durch den Namenszusatz »O.L.« bekannten. Erst bei einer Verwaltungsreform wurde sie einem Regierungsbezirk zugeordnet, dem auch Niederschlesien angehörte. Beseitigt wurde die Markgrafschaft dann von den Nazis, die das Gebiet Anfang 1939 der Provinz Schlesien und später einem Gau Niederschlesien zuschlugen.

Diese Zuordnung blieb in vielen Köpfen haften. Zugleich kamen mit der Vertreibung nach Ende des Zweiten Weltkrieges viele frühere Bewohner Schlesiens in die Stadt. Bei großen Demonstrationen am 17. Juni 1953 wehten die weiß-gelben Fahnen Niederschlesiens. Sie tauchten zum Ende der DDR wieder auf, etwa bei einem Wahlkampfauftritt von Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 an der Neiße. Erst im November jenes Jahres wurde der deutsch-polnische Grenzvertrag unterzeichnet, mit dem die Bundesrepublik alle Ansprüche auf die historischen »Ostgebiete«, darunter Schlesien, aufgab. Um so erbitterter wurde allerdings um den vermeintlich schlesischen Zipfel im Osten von Sachsen gestritten - der nach dem Willen einer »Unabhängigen Initiativgruppe Niederschlesien« (UIN) gar ein eigenes Bundesland hätte werden sollen. Dazu kam es nicht. In der Verfassung des Freistaates Sachsen, die 1992 verabschiedet wurde, wurde der Region jedoch ein besonderer Status eingeräumt. In Artikel 2 ist von einem »schlesischen Teil des Landes« die Rede, in dem neben den Insignien des Freistaats auch »die Farben und das Wappen Niederschlesiens gleichberechtigt geführt werden« dürfen.

Davon wird seither ausgiebig Gebrauch gemacht. Auf der Landeskrone, dem 420 Meter hohen Görlitzer Hausberg, weht eine weiß-gelbe Fahne - und nicht das Blau-Gelb der Oberlausitz. Viele Einheimische sträuben sich gegen die Vereinnahmung, die sie als Etikettenschwindel ansehen - oder als »Geschichtslüge«, wie es in einer 2014 erschienenen Broschüre des »Kuratoriums Einige Oberlausitz« heißt. Der kleine Verein trägt bereits seit Jahren Argumente zusammen, schreibt Briefe und Pamphlete und startet Petitionen, mit denen Änderungen in der sächsischen Verfassung verlangt werden. Der Landtag weist das Ansinnen freilich regelmäßig zurück.

Auch in Görlitz scheinen die Aktivisten gegen Windmühlen zu kämpfen. Schubert hat Ordner voller Zeitungsausschnitte, Fotos und anderer Belege für die Vereinnahmung von Görlitz als »heimlicher Hauptstadt Schlesiens« gesammelt. Viele Institutionen führen eine »Niederschlesische Oberlausitz« im Namen - angefangen von einem früheren Landkreis, dessen Kürzel NOL sich wieder häufiger auf Autokennzeichen findet. Der Verein kritisiert die Bezeichnung, aber mit bescheidenem Erfolg. Immerhin: Die Polizeidirektion änderte ihren Namen; sie heißt jetzt PD Görlitz.

Über die Gründe für die Vereinnahmung von Görlitz nach Schlesien kann nur spekuliert werden. Schubert unterstellt verbreitete Unkenntnis tatsächlicher historischer Zusammenhänge: »Die Leute haben es in der Schule nicht besser gelernt.« Zudem habe man in den 1990er Jahren womöglich auf sogenannte Heimweh-Touristen spekuliert, die auf dem Weg in die Heimat ihrer Vorfahren in der Stadt an der Neiße Station machen.

Allerdings werden auch revanchistische Strömungen bedient. Die weiß-gelbe Fahne Niederschlesiens hat Schubert bei Fernsehbildern der Demonstrationen von Pegida gesehen. Und eine Zeitung, die der Landsmannschaft der Schlesier nahe steht, nannte den »Tag der Oberlausitz« sogar eine »neue Form der Vertreibung«.

Begangen wird der Regionaltag am heutigen 21. August dennoch zum zweiten Mal. Anliegen sei es, das »Selbstbewusstsein der Oberlausitzer zu stärken«, schrieb Gerd Münzberg, der Autor eines 2014 erschienenen Bildbandes, der den »Weg zum Tag der Oberlausitz« darstellen soll. Die Region sei immerhin »2,5-mal so groß wie das Saarland« und habe fast eine Dreiviertelmillion Einwohner, schreibt Münzberg, der von einer »einigen deutsch-polnisch-sorbischen Oberlausitz (...) in der Mitte Europas« träumt. Zu dieser gehört auch Görlitz, wie bei einer Veranstaltung auf der Friedensbrücke bekräftigt werden soll.

Wolfgang Schubert wird dabei sein und gegebenenfalls Passanten aufklären. Und wer überzeugt ist, kann mit einem Glas Freibier auf die Oberlausitz anstoßen.

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