Hören & Erhören

In Baden-Württemberg interessiert die Bürgermeinung, umgesetzt wird sie nicht immer

  • Bettina Grachtrup, Stuttgart
  • Lesedauer: 3 Min.
Mehr direkte Demokratie, mehr Bürgerbeteiligung: Das hatte sich Grün-Rot beim Amtsantritt 2011 im Südwesten auf die Fahnen geschrieben. Die Umsetzung war allerdings schwieriger als gedacht.

Es war eine vollmundige Ankündigung: »Wir verstehen uns als echte Bürgerregierung«, schrieb die frisch ins Amt gewählte grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg im Jahr 2011 in ihren Koalitionsvertrag. Von einer »Politik auf Augenhöhe mit den Bürgern« war die Rede - mit mehr Bürgerbeteiligung und mehr direkter Demokratie, nachdem die Wähler CDU-Regierungschef Stefan Mappus auch wegen dessen autoritären Regierungsstils aus dem Amt gejagt hatten.

Doch die viel beschworene »Politik des Gehörtwerdens« erwies sich als schwierig. Vor allem die Grünen machten dabei einen Lernprozess durch und räumen ein, auch Fehler gemacht zu haben. Die Oppositionsparteien CDU und FDP halten der Landesregierung vor, ihre selbst gesteckten Ziele auf diesem Gebiet nicht erreicht zu haben. Dabei war es ein plebiszitäres Element, das die Regierungsneulinge gleich zu Beginn in die Bredouille brachte, und ein Konfliktthema der grün-roten Koalition abräumen half. Die Grünen mit ihrem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann waren gegen das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 - die mitregierende SPD hingegen war und ist ein Verfechter. In einer Volksbefragung sprach sich eine Mehrheit der Bürger aber für den Weiterbau des Milliardenprojektes aus. Daraufhin gaben die Regierungs-Grünen ihre einstige Opposition gegen S 21 auf.

Komplizierter waren die Dinge beim Nationalpark Schwarzwald. Vor der Einrichtung des Naturschutzprojektes wurden Tausende Fragen besorgter Bürger in einem Gutachten beantwortet. Doch sieben Gemeinden in der Nationalpark-Region ließen ihre Bürger auch über den Park abstimmen. Das Ergebnis: Eine Mehrheit stimmte dagegen. Der Park kam trotzdem.

Grün-Rot sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Bürgerbeteiligung nur taktisch einzusetzen, wenn sie ihr selbst nutzt. Dem hielt die Regierung entgegen, dass »Gehörtwerden« nicht auch »Erhörtwerden« heißt. Alles also ein Missverständnis? »Die Politik des Gehörtwerdens hat zwei Stränge«, erklärt Kretschmann. »Der eine Strang sind Volksentscheide und Bürgerentscheide - die münden in eine direktdemokratische Entscheidung des Volkes. Der andere Strang heißt: Ihr werdet zwar beteiligt, aber zum Schluss entscheidet ihr nicht.« Und das sei das Problem beim Nationalpark Schwarzwald gewesen.

Für Kretschmann liegt auf der Hand, dass große Infrastrukturprojekte wie Stuttgart 21 in Zukunft nicht mehr umgesetzt werden können, ohne die Bürger frühzeitig einzubeziehen. Unter Grün-Rot wurde ein Leitfaden beschlossen, der eine frühe Einbindung von Bürgern bei großen Bauvorhaben wie Kraftwerken und Windparks vorsieht. Auf einer Beteiligungsplattform im Internet können Bürger Gesetzesvorhaben kommentieren. Ausgerechnet aber bei dem noch anstehenden Vorhaben, die Hürden für Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene zu senken, bläst Grün-Rot der Wind auch von eigenen Stadtoberhäuptern entgegen. Von einer Entmachtung der Gemeinderäte ist die Rede - und dass Bürgerentscheide nicht zur Befriedung einer politischen Auseinandersetzung beitragen, sondern sie auch anstacheln können.

Der Konstanzer Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel meint, Bürgerbeteiligung sei ein Mittel, mit dem man der Politikverdrossenheit im Volk entgegenwirken könne. Aber das ganze Thema sei auch mit Illusionen verbunden gewesen. »Inzwischen beurteilt die Regierung die Bürgerbeteiligung nüchtern und differenzierter.«

Seibel erinnert aber noch an ein anderes Problem: Bei Beteiligungsverfahren machten vor allem die Menschen mit, die sich gut artikulieren könnten. Bürger, die eigentlich ohnehin schon zu den Benachteiligten zählten, kämen auch in Beteiligungsverfahren nur schwer zum Zug. Seibel: »Da gibt es dann Verzerrungen, die dem eigentlichen Ziel der Bürgerbeteiligung nicht entsprechen.« dpa/nd

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