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Reichtum statt Enteignung

Band 8/II des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« bietet intellektuellen Gewinn und Genuss

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 4 Min.
Marxismus ist bekannt, der Marxismus-Leninismus auch. Was aber ist ein »legaler Marxismus« oder ein »Martianismus«? Nachzulesen ist alles im »Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus«. In der vor 20 Jahren begonnenen Reihe ist jetzt der zweite Teil des achten Bandes erschienen.

Bei Freund und Feind dürfte der soeben erschienene Band 8/II des vor zwanzig Jahren begonnenen und schon auf 15 Bände angelegten »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« (HKWM) - seit geraumer Zeit auch digital im Netz - besondere Aufmerksamkeit erfahren. In ihm werden nämlich Stichworte zuhauf mobilisiert, die es in sich haben und höchst strittig waren und sind, beispielsweise: Marxismus, Marxismus-Enteignung, Marxismus-Feminismus, Marxismus-Leninismus, Marxismus Lenins, Marxistsein/Marxistinsein. Verfasst sind die lexikalischen Einträge von durchaus kontrovers argumentierenden Autoren allerbester Gelehrsamkeit aus West und Ost. Während das zigmal aufgelegte zweibändige DDR-»Wörterbuch der Philosophie« ausgerechnet dem Marxismus ein selbstständiges Stichwort verweigerte und - auch eine Form von Enteignung - dem Leninismus angliederte, wird er hier sachgerecht behandelt.

Im achten Band, der aus zwei Halbbänden besteht (der erste erschien vor zwei Jahren) werden auch Lassalleanismus, Legaler Marxismus, Linkshegelianismus, Linkskommunismus, Linksradikalismus, Linkssozialismus, Lukács-Schule, Luxemburgismus, Markov-Schule, Marktsozialismus und der für Kubas Revolution lebenswichtigen Martianismus und Maoismus angemessen von internationalen Autoren erörtert. Wenn auch in Unterpunkten angesprochen - ein eigenes Stichwort Marxistenverfolgung, ob durch den Realkapitalismus oder Nationalsozialismus, gibt es leider nicht. Insofern sei auf das von Wolfram Adolphi erarbeitete Lemma Kommunistenverfolgung im Band 7/II des HKWM verwiesen, ergänzend auf die Diffamierung marxistischer Juristen auf der Babelsberger Konferenz 1958, den Rachefeldzug der Gauckbehörde und die erzwungenen, beschönigend Elitenwechsel genannten Enteignungen.

Schier überwältigend ist das in den einzelnen Beiträgen verarbeitete Gedanken- und Tatsachenmaterial. Beeindruckend das jeglichem Dogmatismus abholde Problembewusstsein der jeweiligen Verfasser. Differenzierende Urteilskraft kommt hier zu Wort. Marx und Engels werden keineswegs als unfehlbare Theoretiker und auch nicht quasi als eine Person mit zwei Körpern und zwei Köpfen aufgefasst wie dereinst. Keine Rede ist von einem veränderungsunbedürftigen Gedankensystem, dessen Begriffe, Kategorien oder Ideen auswendig gelernt werden müssten. Marxismus wird hier als eine zwar von zwei deutschen Großdenkern initiierte materialistisch-dialektische Methode zur Erkenntnis und Veränderung der Welt begriffen, die aber selbst einer ständigen Veränderung durch Selbstreflexion und Selbstkritik von Marxisten bedarf. Wolfgang F. Haug spricht in Übereinstimmung mit Eric Hobsbawm vom Marxismus als »works in progress«, deren plurale Erscheinungsform sich an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten in Marxismen entwickelte, entwickelt, entwickeln wird.

Die geschichtliche lndividualitätsform »Marxistsein« oder »Marxistinsein« - hier wohl erstmals als eigenständiger Begriff aufgeboten und mit einem besonders umfangreichen Literaturverzeichnis versehen - heißt nicht etwa, einen personifizierten Wahrheitsanspruch zu erheben. Wenn Marxisten Machthaber sind, sind sie deswegen noch lange keine Rechthaber, wenn auch, vielleicht und keineswegs immer zum Vorteil der Sache, Rechtbehalter. Vorübergehend. Als Marxist zu gelten, sich einzubilden oder zu beanspruchen, es zu sein, heißt noch lange nicht, es auch wirklich zu sein.

Unter den Beweggründen und Wegen beim Marxistwerden kann man die widerständigen, die intellektuellen, die partei- und traditionsgebundenen sowie den sozialen leicht unterscheiden. Es werden auch unterschiedliche Motive des Marxistbleibens ungeachtet des weltgeschichtlichen Scheiterns der mit der Oktoberrevolution begonnenen Epoche erörtert, wobei allerdings der wichtigste Grund: die Existenz des von seiner Geburt an menschenfeindlichen, unvermeidlich kriegsbedürftigen Kapitalismus unterbelichtet bleibt. Dass Verbalmarxisten nach 1989/90 die günstige Gelegenheit ergriffen, ihre Wendehalsgeschmeidigkeit unter Beweis zu stellen, indem sie ihr vorgebliches Marxistgewesensein nicht mehr wahr haben wollen und als reumütige Renegaten ins Lager triumphierender Kapitalismusversteher überwechselten, ist hinlänglich bekannt. Die meisten verschwanden im intellektuellen Nichts.

Wie in den vorangegangenen Bänden des HKWM werden auch in diesem Band zu dessen Vorteil und zum zusätzlichen Vergnügen der Leser einige Stichworte doppelt und dreifach abgehandelt; das Lemma »Liebe« vierfach und »Kritik« sogar sechsfach. Es kommen auch Lemmata vor, die man in einem solchen Wörterbuch überhaupt nicht erwartet: Kulinarisches, Kurtisane, Lachen, Lesbenbewegung, Männlichkeit und Märchen zum Beispiel. Auch deswegen gerät die Lektüre dieses Wörterbuchs immer wieder zum Genuss.

Mit dem Rezensenten hoffen gewiss alle kapitalismuskritischen Geister auf ein baldiges Erscheinen der »restlichen« Bände. Deren Autoren sind zum Teil bereits am Werke. Wichtige Themen sind aber noch unbesetzt, etwa: Medientheorie, Mystizismus, Neokolonialismus, Sozialismus, Sozialstaat, Urchristentum und Zynismus. Das ganze, verdienstvolle Unternehmen wird von einem engagierten Kollektiv getragen, dessen demokratisch angelegte Organisation im bundesrepublikanischen Akademie­ und Universitätsgeschäft einmalig ist. Bewunderung ist angesagt!

Wolfgang Fritz Haug/Frigga Haug/Peter Jehle/Wolfgang Küttler (Hg.) : Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 8/II: Links/rechts bis Maschinenstürmer. Argument-Verlag, Hamburg 2015. 512 S., geb., 98 €.

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