Aus der Gesellschaft heraus

Ein Weltverbesserer: Der Sozialwissenschaftler Rolf Reißig wird 75

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 3 Min.

Gerade erst wieder hat sich Rolf Reißig zu Wort gemeldet. Der Willy-Brandt-Kreis mischte sich für eine »europäische Friedensordnung« und eine »andere Russlandpolitik« in die Debatte über den Ukraine-Krieg und die zunehmenden Spannungen in Ost und West ein. Darunter die Namen von Egon Bahr, Daniela Dahn und Antje Vollmer, von Christoph Zöpel und anderen. Und der von Rolf Reißig.

Es ist eines der Lebensthemen des Mannes aus Gelenau im Erzgebirge: Sein Name ist mit dem Bemühen verbunden, über Systemgrenzen hinweg Kooperation zu ermöglichen - im Sinne von Veränderung. Stets ging es dabei auch um »gemeinsame Sicherheit«, wie es 1987 im Titel des legendären Papiers von SED und SPD zum »Streit der Ideologien« hieß. »Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen«, steht da über DDR und Bundesrepublik.

1987 gingen die Autoren des Dialog-Papiers noch davon aus, dass sich beide deutsche Staaten »auf einen langen Zeitraum einrichten« müssten. Zwei Jahre später war in der DDR längst jener Prozess im Gange, der zu ihrem Ende führen sollte - auch wenn das nicht in der Intention aller lag, die die Mühe auf sich genommen hatten, ihn ins Rollen zu bringen. Rolf Reißig gehörte dazu, war dabei einer jener, die Veränderung in den von der SED beherrschten Institutionen anstrebten: als Friedensforscher, dem die Betonköpfe ein Buch einstampften, als Gründer einer deutsch-deutschen Arbeitsgruppe zum Systemvergleich, welche die SED-Spitze in Wallung brachte, als Vordenker einer DDR-Politikwissenschaft, von der das Zentralkomitee nichts wissen wollte.

»Kritischer Reformer«, diese Bezeichnung hatte Rolf Reißig schon vor der Wende - sie ist im besten Sinne auch heute in jeder Hinsicht gültig. Die Beschäftigung mit dem Umbruch in der DDR ließ ihn zum Mitbegründer einer Transformationsforschung machen, die sich zwar schon im Jahr 2000 »am nahen Ende« sah, wie es in einer Bilanz von Reißig zur »gespaltenen Vereinigungsgesellschaft« hieß, die aber aus der Retrospektive auch eine Perspektive zu gewinnen suchte: »Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert« heißt eines der Bücher auf Reißigs langer Publikationsliste.

Wie lässt sich Gesellschaft verändern, ohne den emanzipatorischen Selbstanspruch in autoritärer Politik, die über Menschen hinweggeht, zu versenken - aber auch ohne hinter den Selbstanspruch zurückzutreten, dass Veränderung sehr weit gehen muss, um diesen Namen zu verdienen? Zumal im Kapitalismus, dieser immerwährenden Aufforderung, das sozial und ökologisch Andere als Ziel nicht aus den Augen zu verlieren?

In Rolf Reißigs Arbeiten verbinden sich die Erfahrungen des demokratischen Umbruchs von 1989 in der DDR mit der Idee einer künftigen Transformation der Gesellschaft über den Kapitalismus hinaus.

Das hat Rolf Reißig hier und da Kritik von jenen eingetragen, die am Irrtum festhalten, die Zukunft liege in der Vergangenheit - oder die Veränderung der Gesellschaft sei schon mit der Besetzung des Hauptpostamtes abgeschlossen, wo doch dann in Wahrheit die Telegramme bloß das Siegel einer neuen Herrschaft über Mensch und Natur tragen.

Reißigs Alternative lautet: »Aus der Gesellschaft heraus neue Wege gehen«. So hat er es einmal formuliert. Am 28. September wird Rolf Reißig 75.

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