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Die einfache Frage nach Wodka

Das Dichten gelang ihm nur als Schmerz und Selbstattacke - an diesem Montag wäre Georg Seidel siebzig Jahre alt geworden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Jeder Staat geht davon aus, dass alle Menschen einander ähneln oder gar gleich sind. Nur diese Annahme ermutigt zu Gesetzen, mit denen alle gemeint sind. »Aber in jeder Zusammenfassung von Menschen, auch in der wohlwollend gemeinten, steckt die Idee des Lagers.« Diese schockierende Quintessenz des Schriftstellers Wilhelm Genazino führt zu einem anderen Autor: Georg Seidel. Der an Fesselung litt. Der noch in einem Haarriss der Dinge die Weltklüfte klaffen sah. Der nicht wusste, was innere Unangefochtenheit ist. Den die Selbsterkundung unweigerlich in einen Schmerz der Unbedingtheit trieb. Der noch jene kleinste Freiheit, die er den Situationen abrang, nicht ohne großes Schuldgefühl denken konnte.

»Was also ist Leben/ und was bin denn ich/ taug ich zu dem/ was ich mache/ woran ich zerbreche.« Man kann diese Verse lesen, als gehöre es zur Erfüllung des Lebensauftrags, zerbrochen zu werden. So wie der Revolutionär seine Arbeit nur getan hat, wenn er dafür erschossen werden muss - von den eigenen Leuten. Das ist kein Zynismus, es ist nur der radikale Ausdruck für Wahrhaftigkeit. Dann, wenn das Hirn rast, das Herz schlägt, die Verhältnisse aber grinsen. Steif. Stocksteif. Prügelstocksteif.

Georg Seidel, 1945 in Dessau geboren, gelernter Werkzeugmacher, Bühnenarbeiter, Dachdecker, Bausoldat. Die Gedichte, mit denen er sich beim Leipziger Literaturinstitut bewarb, erfuhren bittere Würdigung: Sie seien »voller Ressentiments gegen unsere Gesellschaft«, lautete das Urteil. Seidel protestierte - und erhielt die nächste Antwort: »Ihrer Berufsbildung nach sind Sie Arbeiter. Wenn heute ein Arbeiter die literarische Aussage versucht, dann verlangt die Gesellschaft allerdings, daß er dabei die Position der herrschenden Arbeiterklasse einnimmt.«

Seidel schrieb im Bewusstsein, dass man ihn fortwährend abtreibt. Er ist sich selber zu langsam, im Unabänderlichen zu wühlen, er wühlt sich durch seinen Lebensstoff, lebt in Armut heiter. Ein Dichter wachsender Erschöpfung - die aber Kraft verströmt, indem sie Erzählung wird, Theaterstück: »Kondensmilchpanorama«, »Carmen Kittel«, »Villa Jugend«, »Jochen Schanotta«, »Königskinder«. Regisseurinnen wie Tatjana Rese in Schwedt und Konstanze Lauterbach in Rudolstadt sind in der DDR-Endzeit Pionierinnen der Unerschrockenheit, diesen Dichter auf die Bühne zu bringen. Poesie einer Lethargie, die überall zu greifen ist. In einer Erzählung heißt es: »Es ist ein Überdruss, sagte er sich, der in seiner Umkehrung eine Leere erzeugt, dass man sich dünnwandig wie ein aufgeblasener Luftballon vorkommt.« Man denkt an Woyzeck und Lenz, an Leonce und Lena - das Absurde zum Schreien und also immer auch: zum Schreien komisch.

Klügste Sätze hat Irina Liebmann über Seidel geschrieben. Literatur in der DDR sei zu beträchtlichem Teil »geschütztes Sprechen als Abbild eines geschützten Lebens« gewesen. Denn man habe sich, eingetaucht in den Stillstand und gefangen in ihm, »vor Bewegung geschützt, also vor sich selber.« Sich einer Radikalität zu verweigern, die unter den obwaltenden Umständen Selbstzerstörung, innerste Bloßlegung und Auslieferung gewesen wäre - das war Praxis, das aber habe Seidel nicht gekonnt. Er schützte sich nicht vor sich selber: Wahrhaftigkeit ist immer auch Selbstopferung. Tut not, tut gut, tut weh.

Und er schützte auch seine Theatergestalten nicht: etwa Jochen Schanotta. Dieser junge DDR-Mensch empfindet das Mittelmaß als Pein, dieses dauernde kleine Beigeben, diese unheroischen Versöhnungen mit der Wiederholungsschleife Alltag. Rundum alles nur lauwarm, kitzelfrei, keine prasselnde Leidenschaft, kein zischender Hass, keine lodernde Freude, keine stechende Bosheit, keine wegtreibende Seligkeit. Nur immer Verträglichkeit; immer ist man am Platze, nie auch mal am Platzen.

Der achtzehnjährige Schanotta: raus aus der Schule, weg von der Mutter, hin zu Klette, der jungen Arbeiterin; sogar ein Versuch als Werkhallenmensch - nein, dann doch lieber Taugenichts. Ziellosigkeit: der Ursprung und das Ende aller Anarchie. Die beginnt beim Tritt auf die Bremse, ehe man mit den Reifen runter ist. Plötzlich die Einberufung. Nein!, da wird Schanotta nicht hingehen. Komme, was da wolle! Was da kommt, will Gefügigmachung: die Ordnungshüter, die Verhörer, die Wegsperrer, die Staatshalter. Schanotta, ein Junge in jenem Kreis, der keinen Anfang, kein Ende hat, im drahtumwickelten Land. Wo wäre der Ort, wo man mit den »gefolterten Träumen« zu überwintern vermag? In einer Zeit, da die Müdigkeit den Mut ablöste. Die Erschöpfung als größter Titan nach den vergeblichen Aufbrüchen.

DDR, das alles. Erledigt, Schanotta. Aber auch weit weg? Nein. Leistung! Dienst! Befehl! Zuerst wurden damit Heere ausgestattet, dann Firmen, dann das Ich. Man weiß nicht, wer unglücklicher ist: jener, der schweißkalt in der Karriere steckt, oder jener, der in der Freiheit erfriert.

»In seiner Freizeit las der Angeklagte Märchen« heißt das nachgelassene, von Elisabeth Seidel und Irina Liebmann herausgegebene Buch Seidels, der im Juni 1990 starb. Darin ein Dialog. Ein Professor: »Auch nach unserem Tode wird der Schmerz bleiben als die bewegende Kraft unseres Geistes.« Der Dichter: »Wo bleibt’n der Wodka?« Der Professor ratlos. »Das Einfachste«, sagt der Dichter, »wissen Sie nicht.«

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