Herr Merten aus dem Westen

Andreas Ulrichs Buch »Torstraße 94« erzählt ein Stück DDR-Geschichte

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Andreas Ulrich ist Journalist, Sportmoderator beim rbb - und ein Berliner. Kein Zugezogener, sondern ein Eingeborener und noch dazu einer, der heute noch in unmittelbarer Nähe seines Geburtshauses lebt. In der Wilhelm-Pieck-Straße 94 in Mitte, die heute Torstraße 94 heißt, kam Ulrich 1960 zur Welt. Hier wuchs er auf, hierhin zog es ihn als Erwachsenen immer wieder zurück. Heute leben ganz andere Menschen in dem Haus, das äußerlich in den vergangenen 25 Jahren etwas aufgehübscht wurde.

Vorweg: Ulrichs Buch hätte es ohne Hannelore Morgenstern nicht gegeben. Frau Morgenstern führte in der Wilhelm-Pieck-Straße 94 die Hausbücher. In diese hatte man sich zu DDR-Zeiten einzutragen, wenn man in ein Mietshaus einzog. Selbst jene, die nur wenige Tage zu Besuch waren, mussten sich mit Name, Geburtsdatum, Geburtsort, Beruf, Anschrift und Ausweisnummer verewigen. Frau Morgenstern war Näherin beim VEB Herrenmoden und lebte seit 1957 in der Wilhelm-Pieck-Straße 94. 1990 sollte sie das Buch bei den Meldeämtern abgeben. Doch Frau Morgenstern, so Ulrich, »hat sich nicht darum geschert«. Die Bücher hat sie behalten und mitgenommen, als sie 1997 ausgezogen ist.

Die Bücher waren für Ulrich das Basismaterial für weitere Recherchen. Recherchen, die ihn in die Zeit weit vor 1957 zurückführten. Bis in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts konnte Ulrich die Lebensspuren der Ex-Bewohner aus der Wilhelm-Pieck-/Torstraße 94 zurückverfolgen. Im »Seitenflügel, 3. Etage rechts« lebte dort von 1964 bis 1971 Peter Merten. Als junger Kerl wollte Merten Sänger werden, doch statt auf die Bühne ging es für ihn in seiner saarländischen Heimat in den Bergbau. Irgendwann hat ihm jemand den Tipp gegeben, es doch mal in der DDR zu versuchen. 1955 siedelte Merten nach Thüringen über, arbeitete tagsüber in einer Strumpffabrik und nahm in seiner Freizeit Schauspielunterricht. Später stand er auf den Bühnen der DDR-Provinz und bekam schließlich ein Engagement am Metropol-Theater in Berlin. Als sein Vater erkrankte, ging er 1971 wieder in den Westen.

Vor Merten, mit Merten und nach Merten lebten in dem Haus aber auch eine Agentin, ein Bankräuber, ein Model, ein Parteisekretär - und eine Menge anderer Berliner. Zum Beispiel Helmut Puder, der Geliebte von Peter Merten. Nachdem dieser auszog, zog kurze Zeit später Veronika bei Helmut ein. Wie das mit der Homosexualität ihres Mannes war, wollte Ulrich von ihr wissen. Ach, sagt sie, als sie Helmut, der 1974 bei einem Unfall starb, kennenlernte, sei dieser schon »nicht mehr schwul« gewesen.

Heute lebt Veronika Puder in Marzahn. Weggezogen ist sie schon vor 1990. Heute könnte sie in Mitte nicht mehr leben. Die Mieten sind zu teuer geworden. Und so ist Ulrichs Buch auch eines über Verdrängung und Berliner Stadtgeschichte.

Andreas Ulrich: Torstraße 94, be.bra Verlag, 144 S., brosch., 9,95 €. Am 8. Oktober, 20 Uhr, wird Andreas Ulrich sein neues Buch »Torstraße 94« in der Philipp-Schaeffer-Bibliothek (Brunnenstraße 181, Mitte) vorstellen.

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