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Geliebter Mensch fremd

Peter Henning schickt einen Sohn auf die Suche nach dem Vater

Unsere Eltern sind ein Mysterium. Die meiste Zeit ihres Lebens verbringen sie ohne uns. In der kurzen Phase, in der sie uns beibringen, aus dem Nest zu fliegen, ohne abzustürzen, lernen wir nur einen Bruchteil von ihnen kennen. Alles, was wir über sie wissen, bevor es uns gab, können sie filtern, umdeuten, neu denken. Sich selbst für uns konstruieren. Haben sie sich wirklich in der Disco kennengelernt? Musste sich mein Vater je zwischen einem elementaren Richtig oder Falsch entscheiden? Wer sind diese Menschen, aus denen der Zufall jeweils zur Hälfte mich gemacht hat? Der Autor Peter Henning stellt diese Frage mit jeder Zeile seines neuen Romans »Die Chronik des verpassten Glücks«.


Peter Henning: Die Chronik des verpassten Glücks.
Roman.
Luchterhand. 400 S., geb., 19,99 €.


Alles beginnt damit, dass der Kölner Insektologe Richard Warlo auf der Suche nach seinem alten Führerschein in einer Kiste ein Foto seines polnischen Adoptivvaters Pawel entdeckt. Er trägt darauf die schwarze Totenkopf-Uniform der SS. Der eigene Vater einer der »Trawniki«, ein Verräter am eigenen Volk, Scherge, Mordhelfer, ein Unmensch? Existenziell wird die Frage: Wer bin ich noch, wenn ich nicht mehr weiß, wer mein Vater war? Pawel ist tot, damit beginnt der Roman. Nachfragen sind nicht mehr zu beantworten. Doch Richard entscheidet sich, nach Polen zu fahren und trifft dabei auf seine Stiefgeschwister Lucyna und Marcin, die der Vater nach seiner hektischen und mysteriösen Flucht aus Polen zurückließ. Beide sind auf der Suche nach der Konstanten, die die Leere füllt, die der Vater hinterlassen hat.

Lucyna, obwohl noch sehr jung, als der Vater sie verließ, sehnt sich nach Halt, jemandem, der die Familie nebst ihrem abgöttisch verehrten Sohn Kamil komplettiert. Ihr älterer Bruder Marcin, ein extrem übergewichtiger und in allen Lebensbereichen vor sich hinvegetierender, gescheiterter Schriftsteller, ist eigentlich die tieftraurige Hauptperson des Romans. Der Verlust des Vaters hat so tiefe Wunden hinterlassen, dass er sich sogar die Fingernägel wie sein Vater, ein Mandolinenspieler, wachsen lässt. Beide wollen von dem, was der Deutsche zu erzählen hat, nichts wissen.

Die Einzige, die das Geheimnis um Pawels Verschwinden und das Foto auflösen kann, ist Mutter Oliwia, die im Sterben liegt. Richard Warlo läuft die Zeit davon. Er zweifelt am Bild seines geliebten Vaters, den die beiden anderen nie gehabt haben, die wiederum aber seine leiblichen Kinder sind. Durch die Spiegelung der Leerstellen, die Pawels überhastete Flucht und sein Tod in jedem einzelnen Leben hinterlassen haben, zeigt sich, wie wenig der Mensch sich selbst ohne Wissen um seine Wurzeln ertragen kann. Seine Kinder sind Gefangene dieser allgegenwärtigen Person Pawel, obwohl er bis auf den Epilog nie selbst als handelnde Person auftritt, sondern nur durch die Erinnerungen der Protagonisten Wirklichkeit wird.

Dass sich der Autor nicht getraut hat, den Leser über Pawels Motive im Ungewissen zu lassen, ist eines der größeren Mankos dieses Romans. Dabei erkennt Lucyna selbst am Ende, worum es bei der Odyssee des Suchens und Findens und wieder Verlierens eigentlich geht: Um die Lebenden und nicht mehr um die Toten. Jeder Mensch, selbst der Liebste, bleibt uns bis zu einem gewissen Grade fremd. Das auszuhalten, ist unerträglich, bleibt damit doch immer diese unsichere Variable im eigenen Leben, die von heute auf morgen alles verändern kann.

Marcin und Lucyna sind beide unfähig, aus ihrer Haut heraus zu kommen, ertragen oder rennen davon. Sie haben sich eingerichtet, in der Leere, dem Unausgesprochenen, in dieser seltsamen Situation, die die Abwesenheit des Vaters erzeugt hatte. Denn auf ihn sind alle im Roman fixiert. Lucyna ist die, die den starken Mann an ihrer Schulter herbeisehnt und trotz zahlloser Versuche nicht findet, während Bruder Marcin sich in seiner Heruntergekommenheit mit einer wasserstoffblondierten Bekannten suhlt. Und Richard Warlo kehrt ohne das zurück, weshalb er gekommen war: Gewissheit.

Henning hat diese Geschichte dramaturgisch geschickt aufgeschrieben, szenenhaft zieht er den Leser in die kleine, unperfekte Welt seiner Protagonisten hinein. Dabei bleiben sie trotz ihrer immensen Probleme, die das Nicht-Handeln verursachen, und dabei jedem bekannt vorkommen müssen, wundersam fremd. Auch, weil Henning die Figuren an einigen Stellen arg schablonenhaft zeichnet und mit der emotionalen Last, die sie zu tragen haben, fast überfrachtet.

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