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Bürger zweiter Klasse

Die Leibniz-Sozietät beleuchtet Facetten einer unvollendeten Einheit

  • Elviera Thiedemann
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 3. Oktober 1990 fand die deutsche Nachkriegsgeschichte ihren Abschluss. Die Teilung Deutschlands wurde friedlich und demokratisch beendet, die staatliche und politische Einheit der Nation wieder hergestellt. Inzwischen sind die Bürger und Bürgerinnen in Ost und West in ihrer Mehrheit im vereinigten Deutschland »angekommen«. Im Osten eher als im Westen. Die Jüngeren vorbehalts- und komplikationsloser als die Älteren. So fassen die Herausgeber des Bandes der Leibniz-Sozietät jüngste Umfrageergebnisse zusammen.


Ulrich Busch/Michael Thomas (Hg.): Ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit. Facetten einer unvollendeten Integration.
Trafo. 352 S., br., 36,80 €.


Doch neben den hohen Zufriedenheitswerten artikulieren sich bezüglich künftiger Entwicklungen auch Befürchtungen, und es zeigen sich politisch und sozial destruktive Tendenzen. Hier wird vor allem das »Unvollendete« im Einigungsprozess thematisiert und geprüft: Was lässt sich aus bisherigen Entwicklungen lernen? Welche Zukunftsoptionen sind denk- und lebbar?

Nach wie vor steht vor allem Ostdeutschland - aufgrund des Einigungsmodus - unter Transformationsdruck. Andererseits bieten sich jedoch auch Chancen für eigenständige Entwicklungen. Dabei kann man durchaus an bestimmte Leistungen aus der Vergangenheit anknüpfen, regionalspezifische Bedingungen und Besonderheiten, die sich im Einigungsprozess herausgebildet haben, nutzen und unter Umständen eine Vorreiterrolle für gesamtdeutsche Entwicklungen übernehmen (Ulrich Busch).

Doch vorerst fließen noch immer erhebliche Transferleistungen in den Osten, um Folgeerscheinungen des stagnierenden wirtschaftlichen Aufholprozesses sowie technischer, ökonomischer und sozialer Asymmetrien zu mildern. Fehlende Großbetriebe und Unternehmenssitze, eine kaum entwickelte räumliche und sektorale Arbeitsteilung, marginale Exportraten und ein permanenter Mangel an gut verdienendem Personal kennzeichnen viele ostdeutsche Regionen. Hier existieren reine Produktionsstätten - ohne Verwaltungs-, Forschungs- und Entwicklungsbereiche. Mit Branch plant economy lassen sich diese Symptome auf den Punkt bringen und die ostdeutsche Wirtschaft als »Ökonomie zweiter Klasse« beschreiben (Jörg Roesler).

Daraus resultiert auch die Einkommensungleichheit in Ost und West (Rainer Ferchland). Zudem offenbart sich - seit 1990 fast unverändert - ein starkes Ost-West-Gefälle bei der privaten Vermögensausstattung, was im Osten zu einem besonders hohen Armutsrisiko führte (Ulrich Busch). Die damit korrespondierende Marginalisierung der Ostdeutschen hat nicht zu unterschätzende negative Konsequenzen auf das Funktionieren des politischen Systems. Deshalb sollten endlich auch ostdeutsche Ideen und Interessen zur Gestaltung der Gesellschaft genutzt werden (Raj Kollmorgen).

Doch es gibt auch hoffnungsvolle Befunde. Der Modernisierungsvorsprung, den die ostdeutschen Frauen in die deutsche Einheit einbrachten, ist zwar aufgrund mangelnder Kinderbetreuung, eingeschränkter Arbeitsmöglichkeiten und des geänderten Abtreibungsrechts geschmolzen. Aber sie halten in übergroßer Mehrheit an der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit fest, womit ein historisch neuer Familientyp aus der DDR ins vereinigte Deutschland übernommen wurde. Kinder, harmonische Familienbeziehungen und verlässlicher Freundeskreis sowie weibliche Selbstverwirklichung besitzen in Ostdeutschland noch immer hohe Priorität (Ursula Schröter).

Der international anerkannte Modernisierungsvorsprung des Bildungswesens der DDR wurde mit der Vereinigung - mittels politischer Diskreditierung - sofort eliminiert und führte zum ungeprüften »Überstülpen« des föderalen alt-bundesdeutschen Schulsystems. Da dieses aufgrund der Technikentwicklung und gesellschaftlicher Anforderungen dringend der Neugestaltung bedarf, holt(e) man sich inzwischen Anregungen aus dem Schulsystem der DDR (einheitliche Lernziele, einheitliche Lesefibel). Auch die Idee der ganztägigen Bildung und frühkindlichen Erziehung wurde aufgegriffen und institutionell verankert, u. a. mit Bildungsauftrag für den Hort (Dieter Kirchhöfer).

Alle Beiträge verdeutlichen: Die Herstellung »gleichwertiger Lebensverhältnisse« in Ost und West als politisches Ziel der Vereinigung erfordert beiderseits Bereitschaft zu Integration und Modernisierung, ist letztlich aber nur mittels unbequemer politischer Entscheidungen zu erreichen - unter Beachtung zukünftiger Herausforderungen, mit europäischer und globaler Dimension.

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