Kein Neubeginn, nirgends

Olga Grjasnowas »Die juristische Unschärfe einer Ehe« am Maxim-Gorki-Theater

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie träfe in ihren ersten Romanen »aus dem Stand den Nerv einer jungen Generation« und habe eine Versuchsanordnung für ein Leben in einer neuen fremden Welt geschaffen - das bescheinigte die deutsche Literaturkritik der 1984 in Baku geborenen und im Alter von elf Jahren zusammen mit ihren Eltern nach Berlin übergesiedelten Olga Grjasnowa. Tatsächlich gehören die Protagonisten ihres nun im Maxim-Gorki-Theater in einer Bühnenfassung von Nurkan Erpulat auf die Bühne gebrachten Romans zu einer Generation der unentwegt Suchenden, die in ihrem Leben grenzenlose Freiheit mit bedingungsloser Liebe vereinen wollen. Drei junge Leute um die Dreißig treffen in Berlin aufeinander: die durch Verletzung zurückgeworfene Tänzerin Leyla, ihr Ehemann, der Arzt für Psychiatrie Altay und die amerikanisch-jüdische Galeristin Jonoun. Zu ihren Vorstellungen von Freiheit gehört auch die freie Wahl der sexuellen Orientierung. Altay liebt auch Männer, und Leyla hat sich in Jonoun verliebt. Befragt danach, was er an seiner Frau liebt, nennt er neben dem Sex mit ihr »die juristische Unschärfe ihrer Ehe«, worunter er die von Regeln und Verpflichtungen freie Liebe versteht. In 29 zumeist kurzen Kapiteln führt Grjasnowa ihre Protagonisten im rasanten Wechsel in Probenräume verschiedener Theater, Gefängniszellen, ärztliche Notaufnahmen, zurück in die Heimat von Leyla und Altay, die aserbaidschanische Hauptstadt Baku, sowie auf Gebirgsstraßen zwischen Baku und Jerewan.

Schon die erste Szene schlägt den schauspielerischen und inszenatorischen Ton des Abends an. Vier Darsteller - zwei Frauen und zwei Männer - betreten Tanzschritte ausprobierend die Bühne. Eine zunächst senkrecht aufragende Wand neigt sich zur schiefen Ebene, die von den Protagonisten erklommen wird. Dieses Motiv des Anrennens gegen Wände und des mühevollen Besteigens von Bergen kehrt wieder. Nach ihrer Verletzung prallt Leyla (Lea Draeger) von senkrechten Wänden ab und im atemberaubenden Gruppentanz erobern die Vier die von großen Leuchtbuchstaben angedeutete Großstadt Berlin.

Am Ende klammern sie sich mit den Fingern an eine graue Wand und fragen sich - langsam herunterrutschend -, ob das nun das Ende oder ein Neuanfang ist. Ein Neubeginn aber scheint für keinen in Sicht zu sein.

Inszenatorische Absichten werden erkennbar: die vor allem tänzerische und körpersprachliche Gestaltung sowie der kalkulierte Wechsel zwischen hochgepeitschter Ekstase und lastender Stille. Dem entfesselten letzten Liebesakt zwischen Leyla und Altay (Taner Sahin Türk) folgt eine schier endlose Pause, in der die Heldin ein kleines Stück Kuchen verspeist. Auffällig auch das Bemühen, Reaktionen von Triumph und Enttäuschung optisch auf die Spitze zu treiben. Nach dem Geständnis Jonouns, mit einem Mann geschlafen zu haben, verkrampfen sich die Gliedmaßen Leylas und verknoten sich zu einem unentwirrbaren Knäuel. Leylas Verzweiflung über den schweren Neuanfang als Tänzerin findet ihren Ausdruck darin, dass ihr gleichsam ein drittes Tanzbein wächst, das ihr nicht mehr gehorcht.

Das Problem der Aufführung: Fällt schon im Roman eine eher skizzenhafte Figurenzeichnung auf, so bleibt in der Aufführung die schauspielerische Detailzeichnung weitgehend auf der Strecke. Ganze Szenen wie die Wiederbegegnung Leylas mit ihrer Freundin aus der Studentenzeit Nastja (Mareike Beykirch) oder der Abschied Altays von seinem aserbaidschanischen Liebhaber Farid erschöpfen sich im nachdrücklich gesprochen Text. Tragische Momente bleiben ungespielt. In Erinnerung allerdings bleiben zwei von Mehmet Atesci angedeutete Liebhaber Altays. Als selbstverliebter Ballettnarr George tritt er mit Tanztrikot und blauglänzender Perücke auf, erschauert gleichsam vor der eigenen Schönheit und der Wohlgeformtheit seiner Glieder, um dann im jähen Bruch eiskalt den Geschlechtsakt einzufordern. Berührend auch seine Darstellung des suizidgefährdeten Sergej, der vom Freund fordert, seinen vollendeten Selbstmord vor den Eltern zu verheimlichen. Da beweist der junge Schauspieler, dass emotionale Betroffenheit auch ohne Tränen und äußerliche Trauerbekundungen zu erzielen ist.

Das Bühnenbild von Kathrin Frosch versucht, die individuelle Dreiecksgeschichte optisch auszuweiten. Staccatoartig aufblitzende Bildsplitter von Städten, Gebäuden und Landschaften deuten die Spannweite der Romanschauplätze an. Der Schauplatz Baku gewinnt Gestalt durch ein sich drehendes bronzenes Denkmal des Alleinherrschers Aliew. Wenn in Baku Leyla und Jonoun zu ihrem Abenteuertrip in die Berge aufbrechen, sehen wir im Film die Fahrt eines Oldtimers über Berge und Täler. Von ihren Erlebnissen und Begegnungen erfahren wir allerdings nur noch vom zuvor gelesenen Romantext. Spätestens hier ist der Eindruck nicht mehr abzuweisen, dass der nur bedingt für eine theatralische Umsetzung geeignet ist.

Nächste Vorstellungen: 29.10., 3. und 5.11.

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