Polemik zwischen Pizza und Politik

Die »Distel« fordert amüsant-sarkastisch »Einmal Deutschland für alle!«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Schon was das Programmheft an Misslichkeiten deutscher Politik zusammenträgt, ist überaus kabarettträchtig. Allerdings führt die Anhäufung von faktischen Absurditäten nicht zwangsläufig zu einer Pointe.

Ihr Kabarettisten verdient doch Geld mit dem Elend Anderer, so ätzt der Pizzaverkäufer, der in die Vorstellung eindringt und Geld für angeblich georderte Ware verlangt. Und einmal in Rage gebracht, schießt er gleich noch nach: Ihr Kabarettisten sucht offenbar Politiker wie Hofreiter mit aus, denn Kabarettisten regieren unser Land, mit der Glaubwürdigkeit von albanischen Hütchenspielern. Solltet lieber mal ’nen Pizzaladen aufmachen. Das lassen sich die zwei vom Kabarett nicht zweimal sagen und geraten auf diese Weise in den Strudel des Alltags. Denn beim Lieferservice laufen nicht nur die Drähte heiß, sondern auch jede Menge Informationen über das Leben der Anrufer zusammen.

Dies ist der Ausgangspunkt für das 138. Programm der »Distel«. »Einmal Deutschland für alle!« will freilich auf die aktuelle Tagespolitik reagieren, ohne den Zwang, alles besser machen zu müssen als jene, die dafür die Macht haben. So kommt man gut von der runden Pizza zur kantigen Politik und wieder zurück. Acht Texter, von Timo Doleys über Frank Lüdecke, Martin Maier-Bode, Jens Neutag bis Sören Sieg, haben den Buchautoren Robert Schmiedel und Frank Voigtmann zugeliefert, der »Distel«-Chef Dominik Paetzholdt sorgte auf Hannah Hamburgers Bühne ganz im Zeichen der Tomate für einen flotten, umbauarmen Ablauf, und Choreografin Regina Weber machte dem profunden Spaßtrio Dagmar Jaeger, Michael Nitzel und Gast Sebastian Wirnitzer bisweilen sogar kräftig tänzerische Beine.

So gut gemeint wie inhaltlich gediegen sind alle Sketche, und auch was das Programmheft an Misslichkeiten deutscher Politik zusammenträgt, macht die Themen kabarettträchtig. Allerdings führt Anhäufung von faktischen Absurditäten nicht zwangsläufig zu einer Pointe. So münden diesmal nicht all zu viele Szenen in den absoluten Brüller, lassen eher betroffen schmunzeln. Auch das zählt.

Dort, wo aus weniger Realmaterial Funken geschlagen werden, stellt sich jene heitere bis hämische Unterhaltsamkeit ein, die Kabarett bei allen Weltverbesserungsversuchen bieten sollte und will. Maier-Bodes Sketch von den Strippenziehern der Marionette Merkel etwa ist so amüsant wie wirklichkeitsnah und führt an deren postulierten fünf Grundbewegungen vor, wie sich Politiker bei verfänglichen Fragen mit geübten Posen und Phrasen über die Runden retten.

Die Szenen im Pizzaservice, wenn das Trio auf Aufträge wartet, sind Anlass zu manchem Sarkasmus über krude Ungereimtheiten: weshalb unsere nach Afrika exportierte Überproduktion an Waren dort den lokalen Markt ruiniert; wie Bewerbungen um einen Job entsprechend dem Studienabschluss demoralisierend erfolglos bleiben; wie die Auskunftsfreudigkeit der Bestellanrufer bis hin zu ihren Unverträglichkeiten den Geheimdiensten eigentlich bestens zuarbeitet; dass Deutschland seine Waffen früher noch eigenhändig in Kriegsländer gebracht und dort gleich erprobt hat, während sie heute mit dem Angebot, noch ein Krankenhaus zu bauen, lediglich geschickt werden. Nachdenklich stimmt auch der Zynismus einer Villenbesitzerin, doch gemeinsam mit dem Pizzalieferanten um bessere Bezahlung zu kämpfen, um künftig das Trinkgeld zu sparen. Oder der spitzfindige Sketch um den Preisvergleich von Hähnchenschenkeln und Klopapier. Oder die deutsche Familie, die einen gebildeten Syrer aufnehmen will, aber keinen »wunderbaren Neger«.

Wo launige Spieler und lachende Zuschauer Hochform erreichen: wenn Tobias seine Pizza zum 100. Geburtstag einer fidelen, von der gesundheitsbedachten Tochter tyrannisierten Oma abliefert, die in schlesischer Mundart unliebsame Wahrheiten ausspricht. Dass Tobias ihr Erbe wird, damit den Lieferservice kauft und nun selbst zum Ausbeuter gerät, ist die boshafte Konsequenz.

»Einmal Deutschland für alle«, mit dem gleichnamigen Song von Allround-Musiker Matthias Felix Lauschus, hat seinen zweiten Höhepunkt im Finale. Mutter Merkel ist da der Kasper, der seine Widersacher Obama und Putin jubelnd zur Strecke bringt. Auch die Zuschauer jubeln hier dem Kabarettistenterzett, ihren beiden Begleitmusikern und den Autoren zu und gehen froh heim in ein Deutschland - hoffentlich - für alle.

Mo. bis Sa., 20 Uhr, Sa. auch 17 Uhr, Friedrichstraße 101, Mitte, Tel.: (030) 204 47 04, www.distel-berlin.de

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