Kriegsflüchtlinge - erste Opfer

Ein neues Memorial in Rivesaltes erinnert und mahnt. Von Ralf Klingsieck , Paris

  • Ralf Klingsieck
  • Lesedauer: 6 Min.

Im ehemaligen Internierungslager Rivesaltes bei Perpignan ist Mitte Oktober ein Memorial eingeweiht worden, das eindrucksvoll an die schmerzliche und wechselvolle Geschichte dieses Camps erinnert und zugleich die Frage nach dem humanen Umgang mit Flüchtlingen heute stellt. Dass Premierminister Manuel Valls die Einweihung vornahm, der in Barcelona geboren wurde und als Kind mit seinen Eltern nach Frankreich kam, ist von besonderer Bedeutung, denn das Lager Rivesaltes diente zunächst der Aufnahme geflüchteter spanischer Republikaner nach ihrer Niederlage im Kampf gegen die Franco-Faschisten.

Nach dem Fall von Barcelona Ende Januar 1939 retteten sich innerhalb weniger Wochen 470 000 Menschen über die Pyrenäen, davon 210 000 Zivilisten. Die französische Regierung fühlte sich durch die Situation völlig überfordert und fürchtete zudem diese Spanier, die sie verdächtigte, in ihrer Mehrheit gefährliche Anarchisten oder Kommunisten zu sein. Schon 1938 hatte sie ein Gesetz über die »administrative Internierung unerwünschter Ausländer« erlassen, dessen erste Opfer nun die spanischen Republikaner wurden. Unter chaotischen Bedingungen wurden die vor Francos Rache Fliehenden zunächst in Grenznähe in improvisierten Zeltlagern »aufgefangen«, von denen das größte am Mittelmeerstrand von Argelès-sur-Mer stand. Auf der Suche nach dauerhafteren Lösungen wurde das erst 1938 errichtete Militärlager in Rivesaltes am Stadtrand von Perpignan, nur 45 Kilometer nördlich der Grenze gelegen, in aller Eile für die Aufnahme der Spanier umfunktioniert.

Die Lebensbedingungen waren für die hier im Herbst 1940 eingewiesenen Bürgerkriegsflüchtlinge kaum besser als zuvor im Zeltlager. Im Sommer litten sie unter der glühenden Sonne Südfrankreichs, im Winter wehte ein eisiger Wind von den schneebedeckten Bergen der Pyrenäen; die spartanisch mit jeweils 80 Pritschen eingerichteten Baracken ließen sich nicht heizen. Familien wurden auseinandergerissen - Frauen und Kleinkinder auf der einen Seite des Lagers untergebracht, Männer und ältere Jungen auf der anderen. Zu den Spaniern stießen bald weitere Kategorien von Inhaftierten. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 wurden in Frankreich lebende Deutsche und Österreicher als »Bürger feindlicher Länder« interniert, wobei kein Unterschied gemacht wurde zwischen Nazis sowie jene Antifaschisten und Juden, die nach 1933 in die »Heimat der Menschenrechte« geflüchtet waren.

Nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 und der Besetzung des Nordens des Landes durch die faschistischen deutschen Truppen wurde Rivesaltes auch ein Sammellager für die Juden, die das Kollaborationsregime von Vichy in der »Freien« Zone im Süden im Auftrag der Besatzer verhaftet hatte. Neun Transporte mit insgesamt 2313 Juden rollten von Rivesaltes zum Sammellager Drancy bei Paris und von dort weiter nach Auschwitz. In Rivesaltes wurden auch »Zigeuner« gefangengehalten, deren Ausgrenzung und Diskriminierung in Frankreich Tradition hatte und auf die man nun auch das Gesetz über die Internierung anwandte; dabei waren sie keine Ausländer, sondern seit vielen Generationen Franzosen.

Als im November 1942 auch die südliche Zone Frankreichs von der Wehrmacht besetzt wurde, beanspruchte diese das Lager Rivesaltes als Garnison. Daraufhin wurden die Häftlinge in aller Eile auf andere Lager verteilt.

Insgesamt sind zwischen 1940 und 1942 in Rivesaltes 17 500 Menschen gefangengehalten worden. Davon waren mehr als 50 Prozent Spanier, annähernd 40 Prozent ausländische Juden und sieben Prozent französische Zigeuner. Bei Kriegsende 1944/45 diente Rivesaltes erneut als Lager, zunächst für Franzosen, die im Auftrag des Vichy-Regimes Verbrechen verübt hatten, und dann bis 1948 für 10 000 deutsche, österreichische und italienische Kriegsgefangene. Anschließend wurde das Lager Rivesaltes wieder von der französischen Armee genutzt, die hier ihre Kolonialtruppen trainierte.

1961/62 wurde es noch einmal für wenige Monate zum Gefangenenlager, diesmal für Algerier, die man verdächtigte, der Unabhängigkeitsbewegung FLN anzugehören. Damit war im März 1962 Schluss, als der Algerienkrieg durch die Verträge von Evian beendet und die ehemalige Kolonie unabhängig wurde. Doch das Lager hatte damit längst noch nicht ausgedient. Jetzt wurden hier 21 000 der in den ersten Monaten der Unabhängigkeit aus Algerien geflüchteten »Harkis« und ihre Familien aufgenommen - einheimische Kriegsfreiwillige, die die Kolonialarmee unerstützt hatten und nun in der Heimat um ihr Leben fürchten mussten.

Die Behandlung der Harkis durch Frankreich ist ein besonders finsteres Kapitel, denn eigentlich wollte man sie in der aufgegebenen Kolonie ihrem Schicksal überlassen. Nur weil einige Offiziere sich über diesen Befehl von General de Gaulle hinwegsetzten und die ihnen unterstellten algerischen Militärs und deren Familien auf eigene Faust mit an Bord der Fluchtschiffe nahmen, gelangten 50 000 der auf insgesamt 150 000 geschätzten Harkis nach Frankreich. In Rivesaltes und anderen Lagern lebten sie oft noch viele Jahre unter menschenunwürdigen Bedingungen, bis sie nach und nach entlassen und zur Integration auf bevölkerungsarme Ortschaften oder auf Industriebetriebe mit Arbeitskräftebedarf aufgeteilt wurden.

Seit Ende der 1960er Jahre verfiel das Lager, aus den Baracken wurden Ruinen. Nur ein kleiner Teil wurde wieder von der Armee genutzt, die es aber 1986 räumte - diesmal für ein Abschiebehaftlager für illegal nach Frankreich gekommene Ausländer. Jenes wurde dann 2007 nach Perpignan verlegt, denn in Rivesaltes entstand bereits das Memorial - und es hätte wohl doch zu viele unbequeme Fragen aufgeworfen.

Eigentlich sollte das ganze Lager geschleift, das Terrain planiert und der angrenzenden Wirtschaftszone zugeschlagen werden. So hatten es jedenfalls der Bürgermeister der Kleinstadt Rivesaltes und sein Gemeinderat beschlossen. Doch dann entdeckte 1996 ein Lokalreporter zufällig auf einer Müllhalde Teile des Lagerarchivs von Rivesaltes und machte die Sache publik. Es entbrannte eine öffentliche Diskussion über das Lager und seine Geschichte, Tausende Einwohner unterzeichneten eine Petition, in der gefordert wurde, die Relikte zu bewahren und ein Memorial zu errichten.

Ihr einflussreichster Fürsprecher wurde Christian Bourquin, Präsident des Generalrats des Departements Ost-Pyrenäen und später des Rats der Region Languedoc-Roussillon. Ihm ist es vor allem zu verdanken, dass das Departement und die Region das Gelände gekauft und einen Architektenwettbewerb für das Memorial ausgeschrieben haben sowie mit Unterstützung des Staates die nötigen 23 Millionen Euro aufbrachten.

Auf dem ehemaligen Appellplatz steht jetzt das 210 mal 19 Meter große Memorial. Die Einweihung hat Bourquin nicht mehr erlebt, er starb Mitte 2014. An seinem Grab schwor Premier Valls, für die Vollendung der Gedenkstätte zu sorgen. Seit einigen Tagen empfängt sie Besucher.

Das Memorial ähnelt einem Bunker, ist nicht höher als die ehemaligen Baracken, aber zu zwei Dritteln in den Boden versenkt, um nicht die verfallenen Ruinen ringsum zu erdrücken. Dass es keine Fenster hat, begründet der Architekt Rudy Ricciotti damit, dass »die Lagerinsassen auch praktisch keine Aussichten hatten und ganz in sich zurückgezogen lebten«. Nur die drei Innenhöfe lassen den Blick zum Himmel frei, vergleichbar dem »spärlichen Hoffnungsschimmer für die Häftlinge«.

In einem tausend Quadratmeter großen zentralen Raum informiert eine 40 Meter lange und mehr als zwei Meter breite tischartige Vitrine mit Texten, Fotos und einzelnen Exponaten über die wechselhafte Geschichte des Lagers Rivesaltes. Ergänzt wird diese Darstellung durch vier in Endlosschleife an die Wände projizierte Dokumentarfilme ohne Ton und durch 36 Bildschirme mit Kopfhörern, über die man sich die Erinnerungen von mehr als 50 ehemaligen Lagerinsassen anhören kann.

Am Ende der Darstellung wird der Bogen geschlagen zu den Millionen Kriegsflüchtlingen, die in den vergangenen Jahren oder gegenwärtig noch durch Konflikte im Nahen Osten, in Afrika oder Asien aus ihrer Heimat vertrieben wurden und werden. Genauso groß wie die Dauerausstellung ist jener Teil des Memorials, in dem Räume für Schulklassen zur Verfügung stehen und Geschichtslehrer mit Hilfe von Videos, Tonaufzeichnungen und anderem Dokumentationsmaterial Unterricht über die jüngere Geschichte Frankreichs abhalten und dabei auch die aktuellen Ereignisse einbeziehen können.

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