Zeit und Zorn

Vor 20 Jahren starb Reiner Bredemeyer

  • Gerhard Müller
  • Lesedauer: 2 Min.

Ungespielt liegen sie im Schrank, die Partituren der «Blauen Reihe» des Leipziger Peters-Verlages, als er noch die Initialen «VEB» führte. Dutzende von Kompositionen Reiner Bredemeyers, wie von so vielen anderen, waren dort verlegt. Das sind sie jetzt in anderer Weise - verlegt, verweht, vergessen. Im Verlag fragt man vergebens. Vor 20 Jahren, am 5. Dezember 1995, ist Reiner Bredemeyer gestorben, doch kein Konzert erinnert heuer an ihn, kein Symposium, keine Stele.

Auf seinem Grabstein in Berlin-Pankow sind alle Werke eingemeißelt, 150 Bühnenmusiken und 285 weitere Kompositionen, darunter «bagatellen für b.», «Die Galoschenoper», «Bilderserenade», «Candide», die Kantate «Einmischung in unsere Angelegenheit» nach Texten von Michail Gorbatschow« (1985!), Liedern auf Texte von Bertolt Brecht, Heiner und Inge Müller, Franz Fühmann, Volker Braun, Sarah Kirsch, Karl Mickel, Wolfgang Hilbig, Peter Hacks, Heinz Czechowski, Nicolas Guillèn, Pablo Neruda. Auch die Klassiker fehlen nicht - Hölderlin, Lenz, Chamisso, Heine, Voltaire. In seinen Vertonungen schwand ihre Aura, ihr Sinn war der Doppelsinn, er war der Dieter Hildebrand der Musik und hätte eigentlich ein wöchentliches Polit-Konzert gebraucht, was er natürlich nie bekam.

Beispielsweise die »Winterreise« von Wilhelm Müller, eine Reise ins erstarrte Land, ohne Schuberts romantischen Schimmer. Der spätere Thomaskantor Georg-Christoph Biller hob sie einst in der Berliner Komischen Oper aus der Taufe, und Ingo Arnold, der Freund aus Müggelheim, schuf dazu 24 Fotomontagen.

Reiner Bredemeyer, 1929 in Kolumbien als Sohn eines deutschen Ingenieurs geboren, war ein »Neinsager« (Brechts Lehrstück findet sich auch in seinem Werkverzeichnis). 1948 bis 1954 studierte er Komposition bei Karl Höller und Karl Amadeus Hartmann in München, 1955 ging er nach Berlin/Ost und lernte bei Brecht, Felsenstein, Eisler, Paul Dessau und Rudolf Wagner-Régeny. Von 1961 bis 1994 war er Theaterkapellmeister und Komponist am Deutschen Theater Berlin.

Er erhob seine zornige Stimme, als andere stumm blieben. Seine Musik konstituierte eine Gegen-Öffentlichkeit, in der die Dinge »ver-rückt« wurden. Er schrieb Kantaten auf Zeitungsmeldungen, beispielsweise über Honeckers »Sputnik-Verbot« oder den Abschuss einer südkoreanischen Verkehrsmaschine über Sachalin, eine »Bad-Kleinen-Kantate« über den Tod des RAF-Terroristen Wolfgang Grams. Vieles, auch das, bis heute nicht aufgeführt. »Pegida« wäre heute sein Sujet.

Getragen und getrieben wurde er von einer kindlichen Sehnsucht nach dem Anders-Sein, dem Anders-Werden. Das Bild einer truglosen, aufrichtigen, freundlichen Welt leuchtete in ihm, und je weniger er sie fand, desto heftiger wuchs diese Sehnsucht, bis sie zuletzt in Verzweiflung mündete. Seine Musik - verlegt, verweht, vergessen, ungespielt, doch unerhört. Könnte sein, der Wind dreht sich …

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