Von Gogol bis Binnenflüchtlingskrise

Momentaufnahmen der ukrainischen Theaterszene anlässlich des Festivals »Theatre, Freedom, Dialogue«

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.
Passivität soll weite Teile der ukrainischen Gesellschaft nach der Maidan-Revolution erfasst haben. Das gilt auch für die Theaterszene, Neuproduktionen etwa haben es schwer. Momentaufnahmen anlässlich eines Festivals.

Kiew, im Dezember. Am Anfang war ein Gitter. Durch eiserne Gitterstäbe zu ihren Füßen hindurch sahen die Zuschauer im Kiewer Dakh Theatre auf in Einheitsgrau gekleidete Performer, die miteinander Rituale von Unterdrückung, Unterwerfung und Disziplinierung derart exzessiv ausführten, dass man sich an einen Gulag erinnert fühlte. Ein emotional starker Auftakt. Regisseur Vlad Troitsky ist eine der wichtigsten Figuren des zeitgenössischen ukrainischen Theaters. Der groß gewachsene bärtige Kerl, der auch wegen seiner feurigen Augen wie ein Wiedergänger des Zarenbeschwörers Rasputin wirkt, gründete vor gut zehn Jahren in einer verwitterten Plattenbausiedlung im Süden Kiews das Dakh Theater und hob wenig später das wichtige Festival GogolFest aus der Taufe. »Ich hatte Geld aus meinen früheren Tätigkeiten als Wissenschaftler und Geschäftsmann. Ich verspürte den Drang, etwas anderes zu machen«, sagt er im Gespräch mit »nd«.

Schnell eignete er sich das Einmaleins des postdramatischen Theaters an. Neben Geld und Experimentierlust verfügt er noch über eine dritte Gabe: Charisma. Bei einem Engagement als Lehrer an der staatlichen Schauspielschule überredete er eine halbe Schauspielklasse zum Mitmachen. Sie bildet noch jetzt das Gerüst seines Ensembles. »Wir können frei bei ihm arbeiten und auch alle anderen Aufgaben im Theater übernehmen. Das motiviert«, meint einer seiner Schauspieler in der Pause, während die anderen die Bestuhlung oberhalb der Gitterskulptur nach unten bringen. Das Publikum krabbelt nach dem Gong auch in den Kasten - und macht alles falsch. Denn Troitsky will mit seiner doppelten Käfigbespielung auf die Passivität der aktuellen ukrainischen Gesellschaft hinweisen und das Publikum zum Widerspruch herausfordern. »Ihr wart die Bravsten. Gewöhnlich wehren sich die Leute dagegen und wollen wissen, warum sie hier nach unten müssen. Ihr aber habt alles widerspruchslos befolgt«, spottet er über seine Gäste aus dem Westen. Bei denen, also bei uns, macht sich prompt Scham über das Untertanentum breit, obwohl die Folgsamkeit aus Höflichkeit und Neugier entstand.

Irritation gibt es auch, als das Publikum von unten einer Art Messe zu seinen Köpfen beiwohnen muss. Im Glauben finde er Befreiungspotenzial, versichert Troitsky. Damit nimmt er in der Kiewer Theaterlandschaft eine singuläre Position ein. Im Staatstheater wie auch in anderen alternativen Spielstätten setzt man vor allem auf die Karte Nationalbewusstsein. Autoren wie Nikolai Gogol und Vasil Stefanyk werden häufig inszeniert und die Aufführungen gern mit musikalischen und bildnerischen Folkloreelementen angereichert. Im spätklassizistischen Bau des Iwan Franko Nationaltheaters etwa, ein Mehrspartenhaus mit 1 500 Angestellten(!). Selbst im moderat alternativen New Theatre on Pechersk und ebenso bei der äußerst ambitionierten Amateurtheatertruppe von Maxim Golenko. Die allerdings kombiniert in »Vij 2.0«, einem Stück der zeitgenössischen Autorin Nataliya Vorozhbyt, die ihrerseits eine Erzählung von Gogol benutzt, Folklore gekonnt mit Splatter. Damit wird die organisatorisch an das Bilyts Art Center angebundene Truppe aus Kulturaktivisten und IT-Spezialisten sogar politisch aktuell. Auf einer Bühnenkonstruktion in Form eines Kreuzes verhandeln sie, wie zwei Auswärtige, in diesem Fall französische Studenten, in einem ukrainischen Dorf dem Vij, einem Vampirähnlichen Gespenst weiblicher Gestalt, zum Opfer fallen. Ein klassischer Säufer, ein so demobilisierter wie demoralisierter Soldat mit UN- wie Ostukraine-Erfahrung sowie eine Dorfschöne gehören mit zur Besetzung. Gespielt wird mit purer Freude an der Überzeichnung. Der wilde, sarkastische Überlebenswille, wie er aus Filmen des Serben Emir Kusturica bekannt ist, lässt grüßen. Am Ende verwandelt sich das Ensemble in kreischende Vögel und erhebt die Schwingen. »Wir wollen fliegen, aber wir kommen nicht los«, erklärt Regisseur Golenko.

Da ist sie wieder, die Passivität, die Resignation, die weite Teile der ukrainischen Gesellschaft nach der nur halb geglückten Maidan-Revolution nach Ansicht vieler Theatermacher erfasst haben soll. Bei den vielen Diskussionen im Rahmen des Austauschprogramms der European Theater Convention wird dies mit Bedauern als Fazit gezogen. Bis in die Strukturdebatte hinein zog es sich als Motiv. 130 Stadttheater gibt es in der Ukraine, bezahlt werden Gehälter und Gebäude, nicht aber Neuproduktionen. »Es ist ein abgeschlossenes System. Neue Formen und aktuelle Themen haben keine Chance, weil viele Intendanten auf das Gesicherte setzen. Sie sagen, dass sie Tickets verkaufen müssen, und dass das nicht mit Experimenten gehe«, erzählt Iryna Chuzhynova, Aktivistin der Vermittlungsorganisation Theater Plattform.

Also muss, wer zeitgenössische Themen ins Theater bringen will, sich selbst organisieren. Nataliya Vorozhbyt etwa, im Ausland viel gespielte, in ihrer Heimat aber meist ignorierte Dramatikerin baut am nördlichen Stadtrand von Kiew ein Theaterzentrum für Begegnungen zwischen Binnenflüchtlingen aus der Ostukraine und Kiewer Einwohnern auf. Im Rahmen der Performancereihe »Wo ist der Osten?« stellen seit Herbst 2015 einzelne Protagonisten ihre Flucht- und Vertreibungsgeschichten vor. Für sie haben das Reden über die eigenen Erlebnisse und die Resonanz im Publikum einen therapeutischen Effekt. Für die Kiewer bedeutet dies ein Kennenlernen mit den Landsleuten, die in den Medien oft stigmatisiert werden.

Noch konsequenter als die Gruppe um Vorozhbyt, die in dem seit der Maidan-Revolution besetzten Kulturzentrum DIYA arbeitet, geht die Initiative »Theatre for Dialogue« vor. Sie arbeitet mit den Mitteln des Theaters der Unterdrückten von Augusto Boal und ist vor allem in den oft übersehenen Kleinstädten rings um Kiew aktiv. »Es geht uns nicht um die Bearbeitung einzelner Schicksale, sondern um die Aktivierung von Gruppen. Wir veranstalten geschlossene und offene Workshops und Aufführungen des Forumtheaters«, erläutert Oksana Potapova den Ansatz. Im Zentrum stehen vor allem Frauen. »Sie betrifft die Vertreibung stärker als die Männer. Zum einen sind mehr Frauen als Männer offiziell als Binnenflüchtlinge registriert. Zum anderen sind für sie die sozialen Netzwerke wie das Wissen um eine gute Schule, gute Ärzte und gute Einkaufsmöglichkeiten sehr wichtig. All das müssen sie nun neu aufbauen«, meint Potapova.

Als Grund für das statistische Übergewicht - laut UNHCR waren 2014 66 Prozent der nach aktuellen Zählungen insgesamt 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge Frauen und Mädchen - nennt Potapova die Sorge vieler Männer, zum Wehrdienst eingezogen zu werden: »Wer in der Ostukraine gemeldet ist, muss das kaum fürchten. Bei einem Umzug in die sicheren Landesteile ist die Einberufung aber wahrscheinlich.« Der Krieg, in dem sich das Land befindet, wird an den Staatstheatern kaum thematisiert. In den politisch bewussteren Teilen der alternativen Szene ist die Auseinandersetzung damit aber ein starker Motor für die eigene Arbeit.

Die Kiewer Theaterlandschaft ist sehr heterogen. Es gibt die verhältnismäßig gut ausgestatteten Zirkel des arrivierten Kunstbetriebs, eine an westlicher Postdramatik und russischer teatr.doc-Tradition ausgerichtete alternative Szene und jene Künstler, die selbst oft zu den Maidan-Aktivisten gehörten und die jetzt ihre Aufmerksamkeit dem größten Problem des Landes - dem Krieg und seinen Folgen - zuwenden.

www.dax.com.ua; www.gogolfest.org.ua; www.displacedtheatre.com

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