»Die Opfer sagen, dass dieser Film sie ernst nimmt«

Florian Gallenberger und Daniel Brühl über »Colonia Dignidad« und die Vereinbarkeit von Politik und Unterhaltung

  • Lesedauer: 7 Min.

Herr Gallenberger, Sie haben mit »John Rabe« schon ein Historiendrama vorgelegt. Nun also »Colonia Dignidad«. Beide Filme haben mit Kapiteln der deutschen Überseegeschichte zu tun. Was hat Sie zu »Colonia Dignidad« bewogen?
Florian Gallenberger: Ich wollte diese Geschichte aus ihrem Dunkel herausholen. Sie ist zwar nicht gänzlich unbekannt, ihre wahre Dimension aber kennt kaum jemand. Ich finde, dass sie zu skandalös, zu wichtig und auch zu aktuell ist, als dass man sie einfach so im Treibsand der Geschichte verschwinden lassen kann. Und natürlich sollte den Leuten, die dort teilweise unverschuldet in Leid hereingerutscht sind, eine Anerkennung zukommen, indem man ihre Geschichte erzählt. Das betrifft zum einen die politischen Gefangenen, die gefoltert wurden, und zum anderen diejenigen, die in die Colonia Dignidad hineingeboren wurden …

… und nicht ausbrechen konnten. In vierzig Jahren ist gerade einmal fünf Personen die Flucht gelungen.
Gallenberger: Man kann sagen, dass die Colonia Dignidad so etwas wie ein Mini-Terrorstaat gewesen ist, mit Sektenchef Paul Schäfer an der Spitze. Und wenn man sich dann die Säulen seiner Herrschaft anschaut, dann war das zum einen die Figur Schäfer selbst, der innerhalb der Sekte wie Gott gewesen ist, dann die Ideologie oder Doktrin, Schäfers Verballhornung des Christentums, und letztlich die überbordende körperliche Brutalität. Und ich habe das Gefühl, dass diese drei Säulen in totalitären Regimen immer gegeben sind.

Die Interviewten

Florian Gallenberger ist Regisseur, Autor und Produzent. Er wurde 1972 in München geborenen und studierte 1992 bis 1998 an der renommierten Hochschule für Fernsehen und Film seiner Heimatstadt München. Für seinen in Mexiko gedrehten Abschlussfilm »Quiero ser« (1999) gewann Gallenberger zahlreiche Preise, 2001 auch den Oscar.

Daniel Brühl, geboren 1978 in Barcelona, ist in Köln aufgewachsen. Der Durchbruch gelang ihm 2003 mit der Hauptrolle in Wolfgang Beckers Wendefilm »Good Bye, Lenin!«. In »Salvador« 2006 widmete er sich schon einmal einem politischen Thema: der Hinrichtung des jungen Anarchisten Salvador Puig Antich durch die Franco-Diktatur in Spanien im Jahr 1974. Mit Gallenberger und Brühl sprach Harald Neuber.

Herr Brühl, wollen Sie, dass dieser Film auch in die Debatte in Deutschland interveniert, dass er hier die Leute zum Nachdenken und Nachfragen animiert?
Brühl: Das ja. Florian hat sich ja entschieden, diese Geschichte in eine Thriller-Handlung zu packen. Und dass so ein Film eine Aufmerksamkeit für das Thema erst einmal erzeugen kann, glaube ich schon. Darüber hinaus muss aber noch viel passieren. Ich glaube, die Arbeit fängt jetzt erst richtig an. Wenn das Auswärtige Amt sich nun in der Sache bewegt und zumindest ein Seminar für Opfer finanziert, dann ist das schon einmal ein gutes Signal. Aber man muss sich natürlich auch beeilen. Das ist so wie mit all diesen Nazis, die nun wegsterben. Wenn man zu lange wartet, dann gibt es irgendwann keine Überlebenden mehr.

Hat dieser Film also auch einen politischen Anspruch?
Gallenberger: Ja, durchaus. Und ich weiß auch gar nicht, warum man oft denkt: »Oh, das ist ja ein politischer Film, obwohl er auch spannend und unterhaltend ist.« In Deutschland gibt es in manchen Köpfen diesen Grundsatz, dass, wenn etwas politisch relevant ist, dann dürfe es nicht unterhaltend sein. Ich finde das nicht. Wenn ein Film spannend ist und mich fesselt und ich zwei intensive Kinostunden erlebe, dann tut das doch dem historischen Gehalt keinen Abbruch.

Herr Brühl, Sie hatten in Ihrer Kindheit Kontakt zu Exilchilenen, die mit Ihrer Familie befreundet waren. Nun sind Sie Hauptdarsteller in einem Film über die Colonia Dignidad. Wie sind Sie sich des Themas in all seinen Dimensionen denn bewusst geworden?
Brühl: Ich kann mich erinnern, dass das Thema der Colonia Dignidad zu Hause besprochen wurde. Als die ganze Sache in Chile dann aufflog, war das natürlich auch ein Pressethema. Aus dieser Zeit kann ich mich an längere Pressetexte erinnern, ich glaube auch ein Interview mit Betroffenen. Dann ist das Thema aber auch schnell wieder verschwunden. Als das Filmprojekt dann an mich herangetragen wurde, habe ich mich mal ein bisschen in meinem Umfeld rumgehört und da wusste kaum einer was. Es ist ja irre, wie lange der Sektenchef Paul Schäfer von verschiedenen Seiten protegiert wurde und wie clever er sich abgesichert hat, das ist schon echt der Hammer.

Herr Gallenberger, für »John Rabe« waren Sie zwei Jahre in China. Wie lange waren Sie in Chile?
Gallenberger: Ich war über vier Jahre hinweg dort, jedes Jahr etwa zwei Mal. Ich bin auch jedes Mal in die Colonia Dignidad gefahren, die jetzt Villa Baviera heißt, Bayerisches Dorf. Dort habe ich Bekanntschaften und sogar Freundschaften mit den jüngeren Bewohnern geschlossen, die heute Mitte dreißig bis Mitte vierzig sind. Ihnen habe ich schon bei meinem ersten Besuch gesagt, dass ich überlege, ob man nicht einen Film über das Thema Colonia Dignidad machen könnte. Natürlich ist es nicht einfach, über diese Dinge zu sprechen, weil sie sind sehr stark schambehaftet, mit starkem eigenen Leid verbunden. Damit geht man nicht hausieren. Aber ab einem gewissen Punkt haben die mir dann so vertraut, dass sie wirklich ausgepackt haben. Viele Szenen, viele Momente aus dem Film sind eins zu eins aus diesen Gesprächen entstanden.

Die Recherche vor Ort, die überlassen viele Regisseure ja Dritten. Wollten Sie diese Arbeit selber machen oder mussten Sie sie übernehmen, etwa aus Budgetgründen?
Gallenberger: Nein, ich schreibe ja auch selber. Um die Drehbuchvorlage des Autors Torsten Wenzel weiterentwickeln zu können, um die Figuren finden zu können, musste ich das so machen. Allein, wenn ich an die Person Paul Schäfer denke - um so eine Figur zeichnen zu können, ist es so wichtig, von den Leuten, die mit ihm gelebt haben, die unter ihm gelitten haben, zu hören, wie er gewesen ist. Wenn man den Film dann dreht, dann trifft man als Regisseur eine Entscheidung nach der anderen. Wenn ich diese Kenntnisse nicht gehabt hätte, dann hätte ich viele dieser Entscheidungen nicht treffen können.

Im Film selbst ist diese Handlung ja in eine fiktive Rahmenhandlung eingebunden. Es ist sozusagen ein Genre-Mix: eine Liebesgeschichte auf ein Historiendrama. Es gab Kritiker, die gesagt haben, dieser Mix haut so nicht hin. Wie haben Sie das empfunden?
Brühl: Dass das ein Balanceakt ist, das war schon immer klar. Es gibt Themen, bei denen ist die Herangehensweise dem Regisseur überlassen. Mir war schon klar, warum Florian das so machen will, warum er das Thema auch »verdaubar« machen will, weil das alles, so wie es wirklich stattgefunden hat, dem Zuschauer eigentlich nicht zuzumuten ist. Im Endeffekt sind das aber Fragen, die müssen Sie dem Regisseur stellen.

Herr Gallenberger, denken Sie, dass Ihr Genremix aufgeht?
Gallenberger: Nach der Weltpremiere in Toronto kam die Kritik, der Film würde den Opfern nicht gerecht werden, weil man sie nicht ernst genug nimmt. Dazu muss ich sagen, dass wir in Toronto auch eine Handvoll »Colonos«, also Sektenmitglieder, dabei hatten, die den Film dort gesehen hatten. Wir hatten selbst beim Drehen einen »Colono« dabei, der uns beraten hat. Er war auch bei der Weltpremiere in Toronto anwesend. Und er sagte, der Film sei für ihn wahnsinnig intensiv gewesen, weil er sich in diese Zeit zurückversetzt gefühlt habe, er sie auf zum Teil quälende Weise noch einmal erlebt hat. Aber jetzt war die Geschichte auf einmal auf der Leinwand. Und diese Distanz zwischen sich und der Leinwand, die hat in ihm ein Gefühl neuer Freiheit geschaffen. Das war ein sehr bewegender Moment für mich. Wenn die Opfer sagen, dass der Film sie ernst nimmt, dann bedeutet das für mich mehr, als wenn ein Journalist anderer Meinung ist.

Der Film handelt von dem Mikrokosmos der Colonia Dignidad. Daneben gibt es den Makrokosmos mit all dem, was drumherum in Chile geschehen ist. Kann man das alles adäquat abbilden?
Gallenberger: Das ist eine gute Frage, weil man aus dem Thema zehn Filme oder zwanzig Stunden Film hätte machen können. So ein Drehbuch entsteht über Jahre parallel zur Recherche. Es gab zum Beispiel immer den Gedanken, ob man die politischen Ereignisse, die in Chile parallel ablaufen, weitererzählen soll. Wir haben uns dagegen entschieden, denn das Leben in der Colonia war auch dadurch bestimmt, dass diese Leute keinen Kontakt zur Außenwelt hatten. Es gab keine Fernseher, es gab keine Zeitungen, es gab kein Radio. Die durften ja noch nicht einmal Uhren haben, die wussten nicht einmal, welcher Tag es ist. Sie waren sozusagen in einem Ort ohne Kontext. Mir war wichtig, dass wir im Film die Sekte erleben, wie die Sekte wirklich gewesen ist.

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