Leben mit Schwankungen

Nach einer US-amerikanischen Studie ist eine Diskussion um eine Senkung der Blutdruckwerte in Gang gekommen

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.
Welcher Blutdruck ist der beste? Ab wann sollten Medikamente genommen werden? Neueste Studienergebnisse verunsichern Mediziner und Patienten.

Die Ergebnisse der US-amerikanischen SPRINT-Studie, die im Auftrag der Nationalen Gesundheitsinstitute über drei Jahre mit 9361 ausgewählten Patienten durchgeführt wurde, sorgen für Aufregung. Sie und eine weitere Untersuchung der Universität Oxford legen eine Blutdrucksenkung auf einen oberen Zielwert von 120 nahe. Unter den Teilnehmern der amerikanischen Studie befanden sich größere Gruppen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eingeschränkter Nierenfunktion sowie über 75-Jährige, deren oberer Blutdruck bei 130 lag. Nicht zugelassen waren unter anderem Diabetiker. Die Teilnehmer wurden per Zufallsprinzip zwei Gruppen zugeteilt - die eine sollte auf eine Systole von 120, die andere - wie zuletzt üblich - auf unter 140 Millimeter Quecksilbersäule (mmHg) eingestellt werden.

Im August 2015 wurde die Studie vorzeitig abgebrochen, weil die Ergebnisse der 120er-Gruppe deutlich besser ausfielen: Die Mortalität sank um 27 Prozent, die Rate kardiovaskulärer Ereignisse - darunter vor allem Herzinsuffizienz - ging um 25 Prozent zurück. Diese Vorteile wollte man der zweiten Gruppe nicht vorenthalten. Nach Bernhard Krämer von der Deutschen Hochdruckliga profitierten besonders die über 75-Jährigen von der stärkeren Blutdrucksenkung. »In Deutschland müssen sich die medizinischen Fachgesellschaften nun darüber einigen, wie die Ergebnisse in die Behandlungsleitlinien eingehen sollen.« Krämer persönlich, der als Nierenspezialist eine Universitätsklinik in Mannheim leitet, glaubt nicht, dass eine Systole von 120 generell zum neuen Zielblutdruck erklärt wird.

Eine solche Vorgabe erfordert mehr Medikamente, eher eine Kombination von drei als den bisher zwei Mitteln. Nötig ist eine engmaschige Überwachung, etwa einmal monatlich. Zu den Risiken gehört nicht nur das Absacken auf zu niedrige Werte, mit der Folge von Benommenheit, Schwindel oder Ohnmacht. Derartige Nebenwirkungen der Blutdrucksenkung sind gerade bei älteren Patienten häufig, sie können zu Stürzen führen. Weitere Risiken sind ein gestörter Elektrolythaushalt und Nierenversagen. Nach der SPRINT-Studie wurde auch eine Meta-Analyse verschiedener früherer Untersuchungen mit insgesamt 613 000 Teilnehmern veröffentlicht. Unter dem Strich zeigten sich hier bei jeder systolischen Blutdrucksenkung von 10 mmHg deutliche Effekte: 20 Prozent weniger Herz-Kreislauf-Probleme, darunter 27 Prozent weniger Schlaganfälle.

Einfluss auf den Blutdruck haben schon ganz normale Vorgänge: Stuhl- und Harndrang kann die Systole um 27 mmHg erhöhen, die Anwesenheit eines Arztes (der sogenannte »Weißkitteleffekt«) um 22 mmHg, Sprechen um 17 mmHg. Diese möglichen Fehler bei einer Blutdruckmessung zeigen, wie dynamisch der Wert ist. Gesunde Gefäße und Organe können kurzzeitig auch hohe Drücke aushalten: Das Belastungs-Elektrokardiogramm wird etwa bei einer Systole von 200 mmHg abgebrochen. Das Fazit von Bernhard Krämer: »Die Zielwerte sind Mittelwerte, keine festen Größen, im Alltag unterliegt der Blutdruck beträchtlichen Schwankungen.«

Legendär ist der Fall von Franklin D. Roosevelt. Der amerikanische Präsident starb im April 1945 im Alter von 63 Jahren an einer Hirnblutung. Bei ihm waren seit 1939 hohe Blutdruckwerte festgestellt worden. Er rauchte, war beruflich stark engagiert und litt zudem unter Lähmungen. Sein Blutdruck lag zeitweise bei 260 zu 150. Da er sich aber wohl und arbeitsfähig fühlte, rieten im die Ärzte nur, sein Pensum zu reduzieren.

Das Messen des Blutdrucks wurde schon im 18. Jahrhundert entdeckt, Therapien gab es kaum. Bernhard Krämer, der das Roosevelt-Beispiel gern in seinen Vorlesungen an der Universität Heidelberg nennt, kommentiert: »Damals konnte man Flugzeuge und Atombomben bauen, aber zur Behandlung des Bluthochdrucks war man noch nicht in der Lage.« Nach dem zweiten Weltkrieg begannen in den USA größere Studien, in denen ein hoher Blutdruck als wichtiger Risikofaktor für Herzkrankheiten identifiziert wurde. Bei Tausenden von Teilnehmern erwies sich, dass gesunde Menschen mit einem »spontan« niedrigen Blutdruck von unter 120 zu 80 in späteren Lebensjahren deutlich weniger Krankheiten des Herz- und Gefäßsystems - vom Schlaganfall bis zum Herzinfarkt - zeigten. »Das heißt noch lange nicht, dass ein medikamentös auf diese Werte gesenkter Blutdruck den gleichen Vorteil bringt«, gibt Bernhard Krämer zu bedenken.

Der Internist kennt die Zielwerte 140 zu 90 schon seit seiner eigenen Ausbildung zum Ende der siebziger Jahre. Die Faustregel für den systolischen Wert »100 plus Lebensalter« ist aus seiner Erfahrung zwar in der Bevölkerung noch immer populär, er hält sie aber für zu grob: »Auch wenn die Idee nicht komplett falsch ist - Ältere haben in der Regel steifere Gefäße.« Gerade ältere und hochbetagte Patienten haben häufig Schwierigkeiten mit einem zu stark gesenkten Blutdruck. Es kann das Resultat einer stationären Behandlung sein, wenn die Betroffenen mit Werten über 180 zu 120 sowie weiteren Symptomen in ein Krankenhaus aufgenommen werden. Die maximale Wirkung der Medikamente, so Bernhard Krämer, stellt sich erst nach zwei bis vier Wochen ein. Deshalb empfiehlt er, die eigentliche Blutdruckeinstellung ambulant und mit ausreichend Zeit vorzunehmen. Unter Umständen könnten einige Medikamente aus der Entlassungsverordnung weggelassen werden. Eine gesenkte Dosis kann auch im Falle schwerer Infekte sinnvoll sein.

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