Windpocken: Varizellen zirkulieren weiter

Impf-Durchbrüche bei Windpocken sind offenbar keine Seltenheit

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 6 Min.
Im Gegensatz zur Gürtelrose finden sich die Pusteln bei Windpocken am ganzen Körper.
Im Gegensatz zur Gürtelrose finden sich die Pusteln bei Windpocken am ganzen Körper.

Das Kind wirkt nicht krank, hat aber ein paar merkwürdige Bläschen am Körper. »Was kann das bloß sein?«, fragt sich die Mutter. Als ihr die Kinderärztin sagt, dass es sich um Windpocken handelt, ist sie erstaunt – schließlich ist der Vierjährige komplett geimpft. Wie kann man sich das erklären?

»Das ist nichts Ungewöhnliches«, sagt die Virologin Daniela Huzly, die im Konsiliarlabor für Varicella-Zoster-Virus am Uniklinikum Freiburg arbeitet. »Solche Durchbruchsinfektionen kommen vor allem bei kleineren Kindern vor, die einer sehr hohen Virusmenge ausgesetzt sind.« Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn sie mit einem infizierten Kind spielen oder bei seinem Großvater, der Gürtelrose hat, auf dem Schoß sitzen.

»Impf-Durchbrüche beobachtet man allenfalls bei kleinen Kindern, später nicht mehr.«

Daniela Huzly Virologin

»Man geht davon aus, dass die zelluläre Immunität bei diesen Kindern nicht hundertprozentig aufgebaut war«, erklärt die Virologin. »Sie haben in der Regel aber einen leichteren Verlauf mit viel weniger Pusteln, die auch viel schneller abheilen. Man merkt also, dass sie geimpft sind.« Laut Robert-Koch-Institut (RKI) sind 95 Prozent aller Menschen, die zweimal gegen Windpocken (Varizellen) geimpft wurden, gegen die Krankheit immun.

In diesem Jahr gingen im Konsiliarlabor bereits einige Anfragen wegen Impf-Durchbrüchen ein. »Uns ist aufgefallen, dass wir zu diesem Thema oft angerufen wurden«, berichtet Huzly. »Aber das ist nur eine Wahrnehmung. Eine Statistik gibt es leider nicht.« Insgesamt ist die Zahl der Windpocken-Fälle in Deutschland stark zurückgegangen, seitdem die Impfung 2004 offiziell empfohlen wird: Waren es laut RKI um 2000 noch schätzungsweise 700 000 Fälle pro Jahr, liegt die Zahl der gemeldeten Fälle nun bei ungefähr 20 000 pro Jahr. Allerdings dürfte es auch viele nicht erfasste Fälle geben.

Klar ist jedenfalls, dass das Varicella-Zoster-Virus weiter zirkuliert, und zwar nicht nur unter Kindern: Auch Erwachsene, die an Gürtelrose (Herpes zoster) erkrankt sind, können den Erreger übertragen. Beide Krankheiten werden durch dasselbe Virus ausgelöst, doch handelt es sich bei Gürtelrose um keine Neuinfektion. Wer sich erstmals mit dem Erreger infiziert, bekommt Windpocken. Danach schlummern die Viren lebenslang in den Nervenzellen.

Gürtelrose tritt dann auf, wenn der Erreger – oft infolge einer Immunschwäche – wieder aktiv wird. Sie ist ansteckend, wenn man in Kontakt mit der Bläschenflüssigkeit kommt – doch ist die Infektiosität laut RKI weit geringer als bei Windpocken, die vor allem durch virushaltige Tröpfchen in der Luft übertragen werden. »Die Krankheit ist extrem ansteckend. Die Viren fliegen wirklich durch die Luft, daher auch der Name Windpocken«, sagt Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Laut RKI stecken sich mehr als 90 Prozent aller ungeschützten Kontaktpersonen an.

Lässt der Impfschutz im Lauf der Zeit nach? Darauf gibt es laut Huzly keine Hinweise. »Impf-Durchbrüche beobachtet man allenfalls bei kleinen Kindern, später nicht mehr«, sagt sie. Wie gut der Impfschutz aber noch nach Jahrzehnten ist, lässt sich derzeit nicht ganz sicher abschätzen, da die Impfung erst seit gut 20 Jahren empfohlen wird. Kinderarzt Rodeck sagt: »Nach allem, was wir wissen, kann man aber davon ausgehen, dass der Impfschutz lebenslang anhält.« Es gibt also keine Anzeichen dafür, dass die Impfung – wie etwa bei Diphtherie, Tetanus oder Keuchhusten – später aufgefrischt werden müsste.

Allerdings kann es passieren, dass das Impfvirus – wie das sogenannte Wildvirus – wieder aktiv wird und Gürtelrose verursacht. Laut RKI verläuft die Krankheit dann aber milder als üblich. Könnte es sich bei Bläschen, die ein gegen Windpocken geimpftes Kind entwickelt, also auch um Gürtelrose handeln? Prinzipiell ja, meint Huzly. »Aber das Erscheinungsbild ist ein anderes«, sagt sie. So verteilen sich die Bläschen bei Windpocken über den ganzen Körper, bei Gürtelrose sind sie dagegen auf ein Areal beschränkt. Anders als Windpocken, eine typische Kinderkrankheit, kommt Herpes zoster bei Kindern außerdem selten vor. Rodeck sagt: »Gürtelrose ist eine Erkrankung, die üblicherweise im Alter auftritt.« Daher wird allen Menschen ab 60 Jahren eine entsprechende Impfung empfohlen.

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Grundsätzlich sollten Eltern wachsam sein, wenn sie verdächtige Pusteln an ihrem Kind entdecken und beim Anruf in der Arztpraxis gleich auf die Hauterscheinungen hinweisen. Dann können möglicherweise ansteckende Kinder von anderen separiert werden. Für Laien lässt sich oft schwer erkennen, ob ein Ausschlag bedenklich ist: »Es kann auch etwas ganz anderes als das Varicella-Zoster-Virus dahinterstecken«, sagt Huzly.

Bei Kindern sind Varizellen meistens harmlos. Zum Beispiel heißt es auf dem Nationalen Gesundheitsportal gesund.bund.de: »Die Windpocken sind zwar unangenehm, haben aber bei ansonsten gesunden Kindern selten ernste Folgen.« Die häufigste Komplikation ist laut RKI eine bakterielle Superinfektion. Das heißt, dass Staphylokokken oder Streptokokken die lädierte Haut befallen.

Ansonsten kann das Virus vor allem bei Erwachsenen zu einer schweren Lungenentzündung führen. Davon ist nach RKI-Angaben fast jeder fünfte erkrankte Erwachsene betroffen. Andere Komplikationen sind selten. »Je älter man ist, desto schwerer verlaufen Windpocken«, sagt Rodeck. Gefährlich ist eine Ansteckung in der Schwangerschaft: In den ersten sechs Monaten führt eine Infektion beim Kind in seltenen Fällen zu Fehlbildungen, Hirn- oder Augenschäden. Steckt sich eine Frau um den Geburtstermin an, kann ein Baby lebensgefährlich erkranken. Daher sollten sich Frauen mit Kinderwunsch, die noch keine Windpocken hatten, impfen lassen.

Kann es sein, dass die Impfung von Kindern dazu führt, dass mehr Erwachsene – mit oft schweren Verläufen – erkranken? Entsprechende Bedenken hatte das RKI 2006 in einem Kommentar zu zwei tödlich verlaufenen Erkrankungen im Erwachsenenalter geäußert. Doch das ist lange her. Eine geringe Durchimpfungsrate, wie das damals noch der Fall war, sei tatsächlich kontraproduktiv, sagt Huzly. »Wir wollen das Virus aus der Zirkulation nehmen. Deshalb ist es wichtig, dass sich möglichst alle impfen lassen, später auch die Älteren gegen Gürtelrose.« Nur so kann eine »Herdenimmunität« entstehen, die auch jene schützt, die sich nicht impfen lassen können.

Abgesehen davon gab es Befürchtungen, dass es infolge des Impfprogramms häufiger Gürtelrose-Fälle geben könnte. Dahinter steckt die Annahme, dass ein neuer Kontakt zum Wildvirus bei Menschen, die bereits Windpocken gehabt haben, das Immunsystem boostert, sodass Gürtelrose nicht ausbricht. Daten aus den USA, wo die Impfung schon länger empfohlen wird, haben den Zusammenhang aber nicht bestätigt.

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