Pillen als Problemlöser

Der Neurologe Hartmut Göbel über den un­kriti­schen Gebrauch von Schmerz­mitteln bei Teenagern

  • Interview: Angela Stoll
  • Lesedauer: 5 Min.
»Hast du mal eine Ibu?« Schmerzmittel gehören für viele Jugendliche zum Alltag.
»Hast du mal eine Ibu?« Schmerzmittel gehören für viele Jugendliche zum Alltag.

Stimmt der Eindruck, dass viele Jugendliche leichtfertig zu frei verkäuflichen Schmerzmitteln greifen?

Ja. Viele Jugendliche haben nur ein begrenztes Wissen über Schmerzmittel und deren Risiken. Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Beschwerden in dieser Altersgruppe. Jugendliche wollen leistungsfähig bleiben, in der Schule, beim Sport. Wenn sie erleben, dass eine Tablette rasch hilft, entsteht schnell eine gewisse Sorglosigkeit. Hinzu kommt: Schmerzmittel sind in jeder Apotheke frei erhältlich, sie stehen in der Hausapotheke der Eltern, sie sind günstig und vermeintlich harmlos. Dabei ist vielen Jugendlichen nicht bewusst, dass jedes Medikament – auch die frei verkäuflichen – Nebenwirkungen und Risiken birgt.

Gibt es dazu Zahlen?

Ja. Aus eigenen Studien an Schulen wissen wir, dass über die Hälfte der Jugendlichen regelmäßig unter Kopfschmerzen leidet. Entsprechend häufig greifen sie zu Tabletten. Die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts zeigt, dass etwa ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen in der Woche vor der Befragung Medikamente zur Selbstbehandlung eingenommen hat – meist frei verkäufliche Präparate. Andere Umfragen unter Jugendlichen verdeutlichen, dass rund 40 Prozent derjenigen mit wiederkehrenden Kopfschmerzen regelmäßig Schmerzmittel einsetzen. Die Einnahme frei verkäuflicher Schmerzmittel im Jugendalter ist also weitverbreitet.

Interview

Hartmut Göbel (67) ist Facharzt für Neuro­logie, Schmerz­therapeut, Psycho­thera­peut und Diplom-Psycho­loge. Er leitet die Schmerz­klinik Kiel, die er 1997 gegründet hat.

Welches davon ist unter Jugendlichen am beliebtesten?

Ganz klar: Ibuprofen steht an erster Stelle. Es gilt als schnell wirksam, ist preiswert und in nahezu jeder Hausapotheke vorhanden. Auch Paracetamol wird häufig eingenommen. Acetylsalicylsäure spielt bei Jugendlichen eine geringere Rolle. Verschiedene Kombinationspräparate mit Koffein werden ebenfalls verwendet. Der wichtigste Auswahlgrund sind nicht wissenschaftliche Daten, sondern oft ist es die Werbung.

Sollte man Werbung für Schmerzmittel also verbieten?

Das kommt auf die Art der Werbung an. Klärt sie sachgerecht auf und informiert über einen adäquaten Umgang mit Schmerzmitteln, kann sie hilfreich sein. Wenn Werbung jedoch den Eindruck vermittelt, dass eine Tablette die schnelle und unkomplizierte Lösung für jedes Problem ist, ist das problematisch. Dann fördert sie ein Konsumverhalten, das zu leichtfertigem Gebrauch führen kann. Medikamente sind keine Lifestyle-Produkte, sondern Arzneimittel mit möglichen Risiken.

Welche sind das bei Schmerzmitteln?

Zum einen können akute Nebenwirkungen auftreten – zum Beispiel Magenbeschwerden, Magenschleimhautreizungen oder bei Überdosierung Leber- oder Nierenschäden. Zum anderen besteht bei häufiger Einnahme das Risiko einer Chronifizierung: Wenn man über längere Zeit zu oft Schmerzmittel nimmt, kann sich ein sogenannter Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerz entwickeln. Das bedeutet: Die Medikamente, die eigentlich helfen sollen, werden selbst zur Ursache neuer, täglicher Kopfschmerzen. Das ist ein Teufelskreis, den wir in der Schmerzmedizin leider sehr häufig sehen.

Neigen Jugendliche, die sorglos mit Schmerzmitteln umgehen, auch eher zu Medikamentenmissbrauch? Oder Drogenkonsum?

Leider ja. Studien zeigen, dass ein früher, unkritischer Umgang mit Medikamenten das Risiko erhöht, später auch anderen Substanzen gegenüber weniger vorsichtig zu sein. Das bedeutet nicht, dass jeder Jugendliche, der mal eine Schmerztablette nimmt, automatisch gefährdet ist. Aber eine fehlende Sensibilität für Gefahren ist ein gemeinsamer Nenner. Jugendliche, die den Eindruck gewinnen, eine Tablette löst mein Problem sofort, sind möglicherweise eher gefährdet, auch bei anderen Substanzen nach schnellen Lösungen zu suchen.

Welches der rezeptfrei erhältlichen Schmerzmittel birgt die größten Gefahren?

Jedes dieser Medikamente kann riskant sein, wenn es falsch oder zu häufig eingesetzt wird. Ein Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerz entsteht schneller bei der Einnahme von Kombinationspräparaten, insbesondere wenn sie zusätzlich Koffein enthalten. Kritisch ist auch Paracetamol: Schon eine Überdosierung von wenigen Tabletten kann zu schweren Leberschäden führen. Auch Ibuprofen und Acetylsalicylsäure können bei falscher Einnahme gefährlich werden – etwa durch Magenblutungen oder Nierenschäden. Wichtig ist: Kein Schmerzmittel ist harmlos. Es sind Medikamente, die in den Körper eingreifen. Entscheidend sind immer die richtige Dosierung und der richtige Anlass.

Ab und zu mal ein solches Schmerzmittel auf eigene Faust zu nehmen, ist kein Problem. Wann wird es bedenklich?

Die sogenannte 10-20-Regel ist eine einfache Faustregel, um einem Medikamenten-Übergebrauchs-Kopfschmerz vorzubeugen. Sie besagt: Kopfschmerzmittel sollten an nicht mehr als 10 Tagen im Monat eingesetzt werden. An mindestens 20 Tagen im Monat sollte man also ganz ohne Akutmedikamente auskommen. Werden diese Werte überschritten, steigt das Risiko deutlich, dass die Medikamente neue Kopfschmerzen verursachen. Das Tückische daran ist: Viele Betroffene merken zunächst gar nicht, dass die Tabletten selbst zur Ursache geworden sind. Deshalb ist die 10-20-Regel so wichtig. Sie schafft eine klare Orientierung.

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Sollten Eltern ihre Kinder dazu erziehen, Schmerzen auch mal auszuhalten?

Es geht nicht darum, Schmerzen auszuhalten, sondern darum, Schmerzen ernst zu nehmen. Sie sind ein Warnsignal des Körpers und sollten immer hinterfragt werden. Eltern sollten ihren Kindern vermitteln: Wenn du öfter Schmerzen hast, ist es wichtig, die Ursache abklären zu lassen. Akutmedikamente allein sind keine Alltagslösung. Die Sorglosigkeit vieler Jugendlicher hängt damit zusammen, dass sie keine Erfahrung mit den möglichen Gefahren haben. Hier braucht es Aufklärung – durch Eltern, Schule, Apotheken, aber auch durch Ärztinnen und Ärzte. Zudem gibt es vielfältige nichtmedikamentöse Möglichkeiten, Schmerzen zu lindern oder zu vermeiden. Auch Verhaltensänderungen können helfen.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Bei leichten Kopfschmerzen helfen oft ganz einfache Maßnahmen: frische Luft, ausreichend Flüssigkeit, Bewegung, Entspannungstechniken und eine Pause von der Bildschirmarbeit. Auch regelmäßiger Schlaf und gesunde Ernährung sind entscheidend.

Und wann sollte man zum Arzt gehen?

Wenn Kopfschmerzen häufig auftreten, also mehrmals pro Monat, wenn sie besonders stark sind oder wenn zusätzliche Symptome dazukommen – etwa Sehstörungen, Schwindel oder neurologische Auffälligkeiten. Dann ist eine ärztliche Abklärung unbedingt erforderlich.

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