Millisekunden entscheiden über Leben oder Tod

Mit Hightech-Kameras enthüllen Forschende im Labor das Geheimnis tödlicher Schlangenbisse

  • Barbara Barkhausen
  • Lesedauer: 3 Min.
Inland-Taipan, auch Schreckensotter genannt. ist die giftigste Schlange der Welt
Inland-Taipan, auch Schreckensotter genannt. ist die giftigste Schlange der Welt

Seit mehr als 60 Millionen Jahren lauert im Gras ein Erfolgsrezept der Evolution: Giftzähne, scharf wie Dolche, verbunden mit einem Biss, der schneller zuschnappt, als ein Wimpernschlag dauert. Schlangen haben ihr tödliches Werkzeug über Jahrmillionen kaum verändert, weil es schlicht perfekt funktioniert.

Eine neue Studie zeigt nun, wie raffiniert diese Waffen tatsächlich eingesetzt werden. Forschende haben erstmals in einer dreidimensionalen Analyse verglichen, wie Vertreter der drei großen Familien giftiger Schlangen zustoßen. Die Ergebnisse, veröffentlicht im »Journal of Experimental Biology«, zeichnen ein vielseitiges Bild.

Mitautor Alistair Evans von der School of Biological Sciences der Monash University in Melbourne bringt es in einem begleitenden Artikel auf den Punkt: Die Reptilien seien »mit chemischen Waffen ausgestattet« – und ihr evolutionärer Triumph beruhe vor allem darauf, die Beute zu überraschen, lange bevor diese überhaupt realisiert, in Gefahr zu sein.

Frühere Analysen waren technisch begrenzt. Aufnahmen mit nur einer Kamera und schwacher Auflösung ließen oft nur grobe Bewegungsmuster erkennen. Evans erklärt, dass die bisherigen Aufzeichnungen oft eingeschränkt waren, weil man nur eine seitliche Ansicht erhielt, während sich Schlangen in alle Richtungen bewegen können. Für die neue Untersuchung wurden 36 Arten aus allen drei Hauptstammlinien giftiger Schlangen – Vipern, Elapiden und Nattern – untersucht, darunter westliche Diamant-Klapperschlangen, Stumpfnasen-Vipern, Todesottern und Mangrovennattern. Alle Tiere lebten in einer Pariser Forschungseinrichtung mit dem passenden Namen Venomworld (Giftwelt). Dort setzten die Wissenschaftler jede Schlange einzeln in eine Plexiglasarena mit Kartonboden. Als Beuteersatz diente ein erhitzter Gelkörper, der Nagetiere imitieren sollte.

Zwei Hochgeschwindigkeitskameras fingen den Angriff gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven ein. Mit 1000 Bildern pro Sekunde war jeder Bewegungsablauf in feiner Auflösung festgehalten. Aus diesen Sequenzen entstand pro Art eine dreidimensionale Rekonstruktion der Attacke. Insgesamt analysierten die Forschenden 108 erfolgreiche Angriffe und bestimmten, wie schnell sich die Schlange vorwärtskatapultierte, wie abrupt sie ihren Kopf beschleunigte, in welchem Winkel sich ihre Giftzähne öffneten und wie schnell sich der Kiefer schloss.

Die Ergebnisse ergeben ein erstaunlich diverses Bild. Vipern erwiesen sich als die schnellsten Angreifer. Sie schießen mit Geschwindigkeiten von mehr als 4,5 Metern pro Sekunde vor und rammen ihre langen, schwenkbaren Giftzähne in den Beutekörper. 84 Prozent der beobachteten Vipern erreichten ihre Beute in weniger als 90 Millisekunden. Dies sei schneller als die Reaktionszeit vieler kleiner Säugetiere, so die Wissenschaftler.

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Elapiden wie Kobras oder Taipane agieren dagegen strategisch variabler. Evans sagt: »Frühere Forschung hat gezeigt, dass es klare Unterschiede zwischen Angriffen zum Beutefang und solchen zur Verteidigung gibt.« Diese Vielfalt an Angriffstechniken sei gerade in dieser Familie groß ausgeprägt. Die dritte untersuchte Gruppe, die Nattern, setzt auf eine Art chirurgischen Schnitt. Da ihre Giftzähne weiter hinten sitzen, schnappen sie aus größerer Entfernung zu und schieben den Beutekörper seitlich zwischen die Kiefer, wodurch das Gift maximal eindringt.

Die Studie verdeutlicht, wie eng Giftzahnform, Kiefermechanik und bevorzugte Beute miteinander verknüpft sind. Die Forschung hat besondere Relevanz in Australien, das als Kontinent der Giftschlangen gilt. Zehn der giftigsten Arten weltweit leben hier, ebenso 21 der 25 gefährlichsten. Insgesamt existieren über 380 Schlangenarten im Land, der Großteil von ihnen ist völlig harmlos.

Zum Vergleich: Weltweit gibt es rund 4000 Schlangenarten – etwa 600 davon sind giftig. In Australien werden etwa 1500 bis 3000 Menschen jährlich gebissen, doch viele Zwischenfälle enden als sogenannte »Dry Bites« – also ohne Giftinjektion. 200 bis 500 Personen erhalten Gegengift, ein bis zwei Todesfälle pro Jahr werden verzeichnet. Besonders erwähnenswert: Die häufigste Ursache fataler Bisse ist nicht der Inland-Taipan, obwohl er am giftigsten ist, sondern die anpassungsfähige Braunschlange.

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