Wiederaufbau nur für Wohlhabende

Die Altstadt von Diyarbakir in Südosten der Türkei soll aufgewertet werden. Der geplante sozioökonomische Strukturwandel richtet sich gegen die arme Bevölkerung, die der linken kurdischen HDP-Partei ihre Stimme gab

  • Peter Schaber
  • Lesedauer: 9 Min.

Nachdem die Arbeit der Zerstörung erledigt ist, lassen wir die davon betroffenen Bürger temporär woanders wohnen. Danach kann im Rahmen unseres Ministeriums oder auch im Rahmen der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKI die urbane Transformation erfolgen. Neue Lebensräume müssen geschaffen werden«, erklärte Fatma Güldemet Sarı bereits im Dezember 2015. Der Stadtteil, über den die türkische Ministerin für Umwelt und Stadtplanung hier spricht, ist Diyarbakir-Sur. Und die Formulierung »Arbeit der Zerstörung« meint den seit Monaten andauernden, flächendeckenden Beschuss von Wohnvierteln durch Scharfschützen, Panzer und Artillerie in den kurdischen Landesteilen der Türkei.

Wer sich im Januar und Februar in Sur aufhielt, konnte die Geräuschkulisse dieser »Arbeit« täglich hören: Beginnend in den frühen Morgenstunden bis spät in die Nacht erschütterten Explosionen den Stadtteil, begleitet vom Rattern automatischer Waffen und dem Pfeifen gezielter Schüsse aus Scharfschützengewehren. Fatma Güldemet Sarı spricht von diesem Morden und der damit einhergehenden Vertreibung wie von einem Verwaltungsakt: Sind die »Bürger« einmal draußen und die lästigen Gebäude zerstört, könne man die »unstrukturierte Urbanisierung aufheben« und »besseren, lebenswerteren Lebensraum« errichten.

»Besser« wird dieser Lebensraum aus Sicht der Zentralregierung sein, wenn er zwei zentrale Kriterien erfüllt: Die Gegend soll aufgewertet werden; die arme Bevölkerung, in der die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihren stärksten Rückhalt hat, soll verschwinden. Und Sur soll militärisch leichter kontrollierbar werden, als das derzeit der Fall ist; denn die engen Gassen und massiven Steinmauern erschweren den Vormarsch der Sicherheitskräfte enorm und sind die Grundlage dafür, dass die kurdische Guerilla sich hier seit Monaten gegen ein technisch und personell überlegenes Heer verteidigen kann. Das so neu entstehende Sur soll eines für die Oberschicht und für Touristen sein, zudem eines, von dem kein Widerstand gegen die Diktator-Ambitionen Recep Tayyip Erdogans mehr ausgeht.

Urbane Transformation

Das große Interesse von Kapital und Staat an einer Gentrifizierung Surs begann allerdings nicht erst mit der jüngsten Attacke Ankaras. Es reicht viele Jahre zurück und hat seinen Grund in der historischen, sozialen und geografischen Besonderheit des Stadtteils. »Sur«, der Name der Gegend, verweist auf die historischen Befestigungsmauern, die ihn einschließen. Im Süden grenzt er an die Hevsel-Gärten, den grünen Verbindungsgürtel Diyarbakirs zum Tigris. Teile von Sur sind UNESCO-Weltkulturerbe, ein Großteil der Sehenswürdigkeiten liegt im Altstadtviertel. Sur ist mit seinen engen Gassen und dem - in Friedenszeiten - blühenden Leben in den Cafés, Restaurants und auf den Märkten das eigentliche Herz Diyarbakirs.

Die soziale Zusammensetzung allerdings entspricht aus der Perspektive des Staates, der Bauunternehmer und Spekulanten nicht dieser Vielfalt an Möglichkeiten, Geld zu machen. Denn Sur ist ein Armenviertel. In den 1990er Jahren siedelten sich hier viele Familien an, die im Zuge der damals in den Dörfern praktizierten Kriegs- und Vertreibungspolitik des türkischen Staates ihr Zuhause verloren hatten. Sie fanden in Sur billige Unterkünfte, manchmal sogar Häuser, für die sie überhaupt nicht bezahlen mussten.

»2008 haben dann der von Ankara entsandte Gouverneur und TOKI begonnen, ein Protokoll zu entwerfen, nach dem die ›urbane Transformation‹ in Sur umgesetzt werden sollte«, erklärt Suvar Arslan. Arslan ist Stadtplaner, arbeitet für die Stadtverwaltung in Diyarbakir. Die Geschichte und Gegenwart Surs kennt er wie kaum ein anderer.

Die Versprechungen waren dieselben wie immer bei diesen Gentrifizierungsversuchen: Man werde die Lebensqualität steigern, die Infrastruktur verbessern. Die Menschen in Diyarbakir schenkten dem keinen Glauben, die links-kurdische Stadtverwaltung und andere Organisationen begannen gegen das Vorhaben mobilzumachen, und so wurde es vorläufig gestoppt.

Mieten verdoppelt

Allerdings ließ sich die damalige Führung der lokalen Stadtverwaltung unter Bürgermeister Osman Baydemir temporär auf ein anderes Projekt ein, das zunächst damit begann, die zentralen Gebäude und Sehenswürdigkeiten rund um die Hauptstraße in Kooperation mit Ankara zu renovieren. »Dann hat der Gouverneur vorgeschlagen: ›Lasst uns doch die Leute temporär umsiedeln, weg aus Sur, solange die Renovierungsarbeiten dauern‹«, erzählt Arslan.

Osman Baydemir, der selbst enge Verbindungen in die Bauindustrie hatte, stimmte - mit einigen sozialen Verbesserungsvorschlägen - der Umsiedlung zu. Die Veränderungen gingen langsam vor sich, aber dennoch zeichneten sich typische Effekte ab: »Die soziale Struktur und die Architektur des Gebiets begannen, sich zu verändern. Das betraf nicht ganz Sur, sondern nur einige Teile.«

In dieser Zeit, etwa bis in das Jahr 2011, wurden dann tatsächlich viele Menschen in eine außerhalb des Stadtkerns gelegene Siedlung namens »Schönheit der Wüste« umgesiedelt. »Aber das Leben, das sie dort hatten, sprach sich auch bei denen herum, die noch in Sur waren. Es war nicht angenehm, denn die Menschen verloren ihre sozialen Beziehungen, fanden sich außerhalb der Stadt wieder, einige verloren ihre Jobs«, erinnert sich Arslan. Zwischen 2010 und 2012 ging die Gesamtbevölkerung Surs von 105 000 auf 85 000 zurück. Die Mieten stiegen in den betroffenen Straßen exorbitant. »Die urbane Transformation hatte nun begonnen. Die Mieten haben sich mancherorts verdoppelt oder verdreifacht. Und der Staat hatte viel Geld investiert«, weiß Arslan. Und in der Bevölkerung wuchs der Unmut.

Nun begannen einige in der Stadtverwaltung Diyarbakir die Reißleine zu ziehen. Osman Baydemir kandidierte 2014 nicht mehr für das Bürgermeisteramt, der linke Flügel startete Umfragen unter der Bevölkerung Surs über deren Bedürfnisse und beschloss, das Gentrifizierungsprojekt zu stoppen. Die Umsiedlungen hörten auf, Renovierungen sollten mit der Bevölkerung gemeinsam umgesetzt werden. Der Plan war, Verbesserungen umzusetzen, ohne die soziale Struktur des Altstadtbezirks zu zerstören. »Ob das funktioniert hätte angesichts der Dynamiken, die es in der Stadt gibt, wissen wir nicht«, gesteht Suvar Arslan ein. »Wir können es aber vor allem deshalb nicht sagen, weil, bevor wir Ergebnisse hatten, eine neue Situation eintrat: Die Ausgangssperren wurden verhängt.«

Gentrifizierung durch Bomben

Mit der massiven Attacke des Staates, beginnend Ende November 2015, änderte sich für Sur alles. Eine Ausgangssperre wurde über die eine Hälfte des Stadtteils verhängt, Scharfschützen, Militär und die aus Faschisten und Islamisten zusammengesetzten Sondereinsatzeinheiten marschierten auf. Mit Panzern und Artillerie begannen die türkischen Sicherheitskräfte gegen die Barrikaden und Gräben der kurdischen Zivilverteidigungseinheiten Yekîneyên Parastina Sivîl (YPS) vorzugehen.

Diese hielten sich trotz personeller Unterzahl und technischer Unterlegenheit in einem beeindruckenden Überlebenskampf, den die Geografie Surs überhaupt erst möglich machte. Die engen und verschachtelten Gassen, ein historisches Tunnelsystem, die Stadtmauern als klare Begrenzung des Kampfgebiets erschweren den Angreifern den Vormarsch. Vor dem Häuserkampf ohne Fahrzeuge scheute sich die Armee von Beginn an, denn er würde noch höhere Verluste bedeuten, als man ohnehin schon zu verzeichnen hat.

Armee und Polizei gingen also daran, einfach das gesamte betroffene Viertel durch Beschuss zu zerstören. Auf den Bildern der zerstörten Straßen von Sur erkennen die kurdischen Flüchtlinge nicht einmal ihre eigenen Häuser wieder.

Die so ausgelöste Fluchtbewegung ist gewollt. Zehntausende mussten alleine aus Diyarbakir fliehen. Die Entvölkerung des Stadtteils soll der Guerilla ihre Deckung nehmen, gleichzeitig ist sie aber auch Vorbereitung der kommenden Gentrifizierung. Gegenüber dem linken Onlinemedium Bianet erklärte der Direktor der Kammer für Architektur in Diyarbakir das Vorgehen des Staates: »Die Bevölkerung hatte gegen das Projekt der urbanen Transformation in den Nachbarschaften Lalebey und Alipasa (zwei Gebiete in Sur), das 2010 begann, massiven Widerstand gezeigt.« Nun könnte »die gegenwärtige Lage des bewaffneten Konflikts den Grundstein für diese Operation legen«.

Das Toledo der AKP

Die Zielvorstellungen, die den Machthabern in Ankara vorschweben, umriss Premier Ahmet Davutoglu klar. »Wir werden die selbst gebauten Häuser in Sur, das eine historische Gegend ist, aber nun zu einem Zentrum für Kriminalität und Terror wurde, abreißen«, sagte er vor Journalisten in London. Bei einem Besuch in Riad führte der Premier den Plan weiter aus: »Wir werden Diyarbakir-Sur so schön wieder aufbauen, dass es mit seiner architektonischen Struktur zu einer Attraktion für Touristen wird.«

Und er fügte hinzu: »Ganz wie Toledo.« Die spanische Stadt war während des Krieges der Franco-Generäle, die unterstützt vom deutschen wie italienischen Faschismus blutig die spanische Republik niederschlugen, zerstört und danach als Prestigeprojekt der Faschisten wiederaufgebaut worden. »Nachdem Toledo vor dem diktatorischen Regime kapituliert hatte, errang Franco die volle Kontrolle über Spanien. Ebenso will der Ministerpräsident nun seine Diktatur mit der Niederringung von Sur ausrufen«, kommentierte der Co-Vorsitzende der linken kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) dieses Vorhaben.

Dass in Davutoglus türkischem Toledo kein Platz mehr für die jetzige Bevölkerung Surs sein wird, zeigen mittels TOKI durchgesetzte »urbane Erneuerungen« in Istanbul. Das zentrale Viertel Tarlabasi bekam den Segen dieser Transformation genauso zu spüren wie die einzigartige Roma-Nachbarschaft Sulukule. In beiden Fällen wurde alles teurer, Menschen wurden vertrieben, gewachsene Kulturen und soziale Beziehungen wurden gewaltsam zerstört. In anderen Vierteln in Istanbul, wie etwa im linken alevitischen Stadtteil Okmeydani, ist Ähnliches geplant.

»Wir gehen nirgendwohin«

Allerdings: Weder in Okmeydani noch weniger aber in Sur wird dieser staatliche Angriff so reibungslos vonstattengehen, wie man sich das in Ankara vorzumachen scheint. Die Idee einer Autonomie der kurdischen Städte und Provinzen genießt hier hohe Zustimmungswerte. Die linke kurdische HDP erreichte bei den Wahlen im November in Diyarbakir 72,8 Prozent, in Sur waren es knapp 76.

Die kurdische Bevölkerung, die hier lebt, hat seit Langem ein sehr angespanntes Verhältnis zum Zentralstaat, und der gegenwärtige Generalangriff wird dieses eher noch verschlechtern. Eine rasche Befriedung, die Voraussetzung für die Umsetzung der Gentrifizierungspläne wäre, ist nicht zu erwarten. Zudem haben sich die Massenvertreibungen der 1990er Jahre in das gesellschaftliche Gedächtnis eingeprägt. »Wir lassen uns nicht noch einmal vertreiben. Wir gehen nirgendwohin« - kaum einen Satz hört man in den von den Kämpfen verheerten Stadtteilen so oft wie diesen. Und auch diejenigen, die aus Angst um ihr Leben gezwungen sind, ihre Häuser zu verlassen, gehen nicht weit weg. Sie bleiben in der Regel bei Freunden, Verwandten oder Unterstützern in der näheren Umgebung, in der Hoffnung bald zurückkehren zu können. Mit diesen Menschen gemeinsam wollen denn auch die kurdischen Hilfsorganisationen wie der Rojava-Verein mit Hauptsitz in Diyarbakir, der sich derzeit um die Basisversorgung der vom Krieg Betroffenen kümmert, irgendwann die Stadtteile wieder aufbauen. »Wir haben bereits begonnen, für die Zeit danach zu planen. Wir werden unsere Städte und Bezirke selbst wieder aufbauen«, erklärt Sarife Özbekli vom Rojava Dernek in Diyarbakir. »Dafür muss allerdings der türkische Staat aufhören, hier zu morden.«

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