Keine Liebe, wie man sie aus der Illustrierten kennt

In der Konzerthaus-Reihe »2 x hören zeitgenössisch« wurden diesmal Gerard Griseys »Les Chants de l’Amour« musiziert und erläutert

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 3 Min.

Musik-Diskurs mit live musizierten Beispielen, Partiturprojektionen - Wiederholung der Musik. Das ist das Prinzip der Reihe »2 x hören zeitgenössisch«, die seit 2015 von Christian Jost gestaltet und moderiert wird. Gut besucht sind die Veranstaltungen jedes Mal, weil sie mehr sind als die bloße Darbietung von Musik. Hier rückt im günstigen Fall näher, was vielfach selbst den Beflissenen unter den Hörern verborgen bleibt, nämlich - wenn auch nur punktuell - die Struktur von Musik und ihre Aufführungsprobleme.

Das junge Solistenensemble »Phønix 16« unter Dirigent Timo Kreuser stieg ohne Vorrede sofort in den Abend ein und vokalisierte eine Fantastik, wie sie selten zu erleben ist. Sechs Frauen- und sechs Männerstimmen - unter den Damen ein Altus, ein Mann - sangen diese sonderbaren, technisch höchste Anforderungen stellenden Liebeslieder des Gerard Grisey in ihrer ganzen Verwickeltheit. Dazu Vierkanaltechnik, produziert mit dem Programm »Chant«, das seinerzeit im Pariser Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) entwickelt worden war.

Den ganzen Raum ergreifende Klänge und Geräusche vom Tonband, das über ein Klick im Ohr des Dirigenten eintaktet und dessen Substanz den Bau der Komposition gliedern hilft, ein Material, das sich vom Satz »I love you« in vielen Sprachen herleitet und in rumorenden Verfremdungen durch den Raum geht. Details der Komposition, die Christian Jost und Dirigent Timo Kreuser erläuterten und auf diese Weise eine Hilfestellung beim nochmaligen Hören bildeten. Auch jene an die Wand projizierten Partiturbilder halfen, die gestalterische Vielfalt der Komposition wenigstens ansatzweise durchsichtig zu machen.

»Les Chants de l’Amour« des 1946 geborenen, 1998 in Paris an einem Hirnschlag viel zu früh verstorbenen Franzosen entstanden 1982/84. Die Stücke gehören zum Seltsamsten dieser Art Literatur, die sich mit dem Schönsten beschäftigt, was die Menschen verwirrt und beflügelt. Unzählige Varianten, mit dem Thema Liebe umzugehen, hält die Dichtungs- und Musikgeschichte parat. Grisey indes schuf einen Ausnahmefall.

Nur ganz wenige Vokalensembles hätten das Stück im Repertoire, so Christian Jost. Im Konzerthaus würde es hier nun erstmals erklungen sein. Dirigent Timo Kreuser gab seinerseits lebendige Auskunft über einige Vertracktheiten der Umsetzung und die Relevanz der rhythmischen Dimension. Zugleich stand die Frage: Wie sind Gefühle, Ereignisse, Temperierungen der Liebe in Töne und Klänge zu setzen, ohne der Melancholie der Lieder eines Schubert, Schumann, Hugo Wolf oder Mahler zu folgen? Auch in dieser Hinsicht sei Gerard Grisey ein kühner Neuerer gewesen.

Der Komponist gilt, wie Jost fachmännisch erklärte, als Erfinder der spektralen Musik, einer, die den ganzen Komplex der Obertöne von Klängen in Betracht zieht. Spektrale Erfahrung hätte sich auch in den Liebesliedern niedergeschlagen. Manche zuvor überhörte Details erschlossen sich nun über die zweite Wiedergabe des kompletten Werkes.

Das vokale Vorspiel läuft noch ohne Elektronik. Ein Gewirr stimmlicher Polyphonie entwickelt sich zeitlupenhaft. Ganztonskalen kommen von je einzelnen Vokalistinnen und streben in sopraneske Höhen. Glissandi wechseln einander ab. Vierteltönigkeit bei fast jeder vokalen Anstrengung. Analog dem naturwüchsigen Liebesspiel zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Frau und Frau fallen Silben wie »Mah-a-ha«, »im«, »am«, »bamm«. Zwei Soprane buhlen trällernd um eine dritte Person. Lachen, kichern, girren. Der Altus atmet tief und schwer, er singt Töne ein und aus. »Ding-ding«, lautet es, und bringt in das ganze Ensemble die heftigste Erregung. Schlaumeier, wer da an einen Orgasmus denkt.

Zärtlich klingt das wacklige, bebende »Amore« aus den Damenmündern und führt hinüber in das Wort »Orfee«. Liebe wie aus der Illustrierten ist das nicht. Der Schluss vokalisiert von Julio Cortazar aufgeschriebene Worte aus einem Liebesbrief, den eine Mutter, deren kleines Kind gestorben ist, auf ihren Spiegel schreibt.

Ein Wunder, dieses Werk des großen Franzosen, und genauso wundervoll aufgeführt von den Vokalsolisten »Phønix 16« unter Timo Kreuser.

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