Die Rückkehr der Dorfläden

Wie Hessens Werra-Meißner-Kreis die Abwanderung stoppte und zur Modellregion wurde

  • Harald Lachmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Der strukturell benachteiligte Werra-Meißner-Kreis in Nordhessen bemüht sich erfolgreich, eigene Kräfte und Potenziale besser zu nutzen. Und er wird damit zum bundesweiten Modellfall.

Als es noch zwei Deutschlands gab, gab es in keinem Landkreis West einen längeren Grenzabschnitt als in der Region zwischen Werra und Hohem Meißner. Größere Industrieansiedlungen fanden hier, im sogenannten Zonenrandgebiet, nicht statt. »Allenfalls verlängerte Werkbänke entstanden«, erinnert sich der heutige Landrat Stefan G. Reuß (SPD). Doch auch nach 1989 wurde es nicht besser. Stets blieb ein Fördergefälle zwischen dem reichen Bundesland Hessen als einem der Geberländer und dem aufholbedürftigen Osten. »Also zogen Investoren, die sich hier ansiedeln wollten, gleich ein paar Kilometer weiter nach Thüringen«, so Reuß.

Die Folge war auch eine permanente demografische Schrumpfung. Lebten bei Kreisgründung 1974 noch rund knapp 122 000 Menschen im Werra-Meißner-Kreis, sind es heute kaum noch 100 000. Doch inzwischen steuert man gerade hier erfolgreich gegen. »Seit drei Jahren haben wir wieder klar mehr Zuzüge in den Landkreis als Abwanderung«, freut sich der Landrat. Die Zahl neuer Arbeitsplätze ist beachtlich, beim chronisch defizitären Nahverkehr setzt man auf eine unkonventionelle »Mobilfalt«, die auch bürgerschaftliche Mitfahrgelegenheiten anbietet. Und selbst tot Geglaubtes erlebt eine Renaissance - Dorfläden etwa: »Inzwischen haben sechs wieder geöffnet.«

Als Erfolgsrezept auf dem Weg zu »klar verbesserten Strukturen in der Daseinsvorsorge«, die er sich auf die Fahne geschrieben hat, nennt Reuß »viele kleine Schritte, die doch Größeres bewirken können«. Dazu besinne man sich der eigenen Kraft, stärke Handwerk und Mittelstand, fokussiere einen kleinteiligen, aber vielfältigen Branchenmix, statt »auf den großen Wurf zu warten«. Das beginne - dort, wo das Vergaberecht es zulässt - bei der gezielten Auftragsauslösung im Landkreis und reiche bis zu unkonventionellen Berufsberatungen zugunsten heimischer Firmen und Branchen in den Schulen bereits ab der 5. Klasse.

Als den »eigentlich entscheidenden Punkt« dabei empfindet es Reuß, die Ideen und Initiativen der Bürger selbst zu stimulieren, aufzugreifen und zu bündeln: »Eben hier sind wir unheimlich aktiv!« Und was man damit anschob, ist inzwischen oft nachahmenswert für ganz Deutschland. Gleich mehrfach firmiert der Werra-Meißner-Kreis heute bundesweit als Modellprojekt - beim Ökolandbau, bei der Inklusion und vor allem beim Revitalisieren strukturschwacher ländlicher Räume.

Bereits bis 2012 war der Landkreis so eine von nur zwei Modellregionen im Bundesprojekt »Region hat Zukunft«, wozu das Infrastrukturministerium eine Million Euro zuschoss. Und seit 2015 sind die Nordhessen erneut eine von 13 Modellregionen im Programm »Land(auf)Schwung«, mit dem der Bund strukturschwache Landregionen dabei unterstützt, mit dem demografischen Wandel aktiv umzugehen, die regionale Wertschöpfung zu erhöhen und so auch Beschäftigung zu sichern. Diesmal schießt das Agrarministerium 1,5 Millionen Euro zu.

Der maßgeblich von bürgerschaftlichem Engagement getragene Verein für Regionalentwicklung Werra-Meißner e.V. strickt dazu gegenwärtig an einem Netzwerk mit den Schwerpunktthemen Wirtschaft und Bildung. So fand im Februar ein Expertenworkshop zur Neuausrichtung der Ausbildungs- und Arbeitsmarktstrategie für den Landkreis bis 2020 statt, zu dem der Landrat 35 regionale Akteure aus Schulen, Wirtschaft und Verwaltungen begrüßte. In der Kreisstadt Eschwege entsteht etwa ein Medienhaus, das auch Ausbildungsplätze in den neuen Medienberufen anbieten wird.

Und obwohl viele Strukturen gerade erst keimen, »spürt man schon eine hohe Bereitschaft der Bürger mitzuarbeiten«, so Reuß. Denn mit jedem dieser kleineren Projekte steige auch die Identifizierung der Menschen mit dem eigenen Ort: »Es motiviert und man fühlt sich verpflichtet, sich einzubringen und Vorhaben zu unterstützen, damit sie nachhaltig werden.« Gerade Leute in den Dörfern wüssten: Wenn weitere öffentliche Einrichtungen - etwa Schulen - erst verschwunden seien, weil sie nur unzureichend genutzt werden, sehe man sie nie wieder.

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