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Bosnien und Herzegowina: Offene Wunden in einem zerrissenen Land
Eine Reise durch quasi-autonome Teilstaaten 30 Jahre nach dem Friedensabkommen von Paris
Es ist eine stumme Anklage, die umso stärker wirkt. Mehr als 700 Männer blicken von schwarz eingerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien auf die Besuchergruppe herab. In der Gedenkstätte in Srebrenica wird nur ein Teil der mutmaßlich 8372 Menschen gezeigt, die Mitte Juli 1995 in und um die Stadt von serbischen Truppen ermordet wurden.
Mehr als 1000 Bewohner von Srebrenica und aus den umliegenden Dörfern werden bis heute vermisst, erzählt eine Einheimische. Sie war ein Kind, als serbische Soldaten in das Haus ihrer Eltern eindrangen. »Sie trugen schwarze Stiefel.« Diese Erinnerung hat sich ihr eingebrannt. Bis heute, sagt die Frau, mag sie weder schwarze Schuhe sehen noch anziehen. In den serbischen Dörfern in der Nähe lebten noch immer Täter von damals völlig unbehelligt.
Vor 30 Jahren, am 14. Dezember 1995, wurde in Paris das Friedensabkommen unterzeichnet, das dreieinhalb Jahre Krieg in Bosnien und Herzegowina offiziell beendete. Drei Wochen lang war zuvor unter Aufsicht der USA in Dayton verhandelt worden. Unterzeichner waren der damalige serbische Präsident Slobodan Milosevic, Präsident Franjo Tudman für Kroatien und Alija Izetbegovic als Staatsoberhaupt für Bosnien und Herzegowina.
Eine Reise drei Jahrzehnte später zeigt: Der von Gebirgen geprägte kleine Balkanstaat mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern ist nach wie vor ethnisch zerrissen und politisch gespalten. Viele Wunden sind noch immer nicht verheilt. Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung.
Der langjährige »Taz«-Korrespondent Erich Rathfelder und die bosnische Kunsthistorikerin Amela Maldosevic haben diesen Intensivkurs in Geschichte und Gegenwart organisiert. Die Fahrt auf kurvigen Gebirgsstraßen und durch enge Täler führt von Mostar im Süden mit spätsommerlichem Sonnenwetter bis nach Srebrenica im Norden, wo heftige Schneefälle überraschen.
Gespaltenes Land
Das Land zerfällt politisch in die bosnisch-kroatisch geprägte Föderation Bosnien und Herzegowina und die serbisch dominierte Republika Srpska, wo ein Drittel der Bewohner lebt, sowie das kleine Sondergebiet Brcko. Es gibt ein dreiköpfiges, aber politisch sehr schwaches Staatspräsidium und den von den Uno eingesetzten Hohen Repräsentanten, seit August 2021 hat der Deutsche Christian Schmidt (CSU) das Amt inne. Er kann hineinregieren in das brüchige Staatsgebilde – und tut es auch.
Als wir ankommen, herrscht politische Hochspannung. Die Zentrale Wahlkommission hatte den langjährigen Präsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik, nach fast zwei Jahrzehnten an der Macht des Amtes enthoben. Grund: Entgegen aller Vorgaben habe Dodik offen auf den Anschluss des Landesteils an das angrenzende Serbien hingearbeitet.
Am 23. November fanden daraufhin Präsidentschaftswahlen statt. Der Dodik-Vertraute Sinisa Karan kandidierte und wurde anschließend zum Sieger erklärt. »Als es am schwierigsten war, hat das serbische Volk gesiegt«, rief er bei der Wahlparty seinen Anhängern zu. Kurz zuvor hatte die US-Regierung Sanktionen gegen den Dodik aufgehoben.
Die Opposition sprach indes von Wahlbetrug in mehr als 100 Wahlbüros. Am Montag dieser Woche ordnete die Wahlkommission nun eine Neuauszählung der Stimmen aus 51 Wahllokalen an. Laut dem vorläufigen Wahlergebnis war Karan auf 50,4 Prozent der Stimmen gekommen, sein Hauptrivale Branko Blanusa landete bei 48,2 Prozent.
Vor seiner Amtsenthebung war Dodik verurteilt worden, weil er zwei Gesetze in Kraft gesetzt hatte, welche die Umsetzung von Entscheidungen des Hohen UN-Repräsentanten untersagten. Der 66-Jährige hat gleichwohl weiter viel Einfluss. Während unserer Reise waren in Dörfern und kleinen Städten der Republika Srpkska überall serbische Flaggen und Konterfeis von Dodik und Karan zu sehen. Auf Kundgebungen zog Dodik unter großem Beifall über die »Türken« in Sarajevo her, die Lügner und Betrüger seien.
Multikulturelles Sarajevo
Gemeint sind die Bosnier und Kroaten, die Sarajevo prägen, die mit knapp 300 000 Bewohnern größte Stadt des Landes. Sarajevo ist eine multikulturelle Stadt, in der das Zusammenleben der Ethnien und Religionen recht gut zu funktionieren scheint. Der Ruf des Muezzins erschallt hier morgens vom Turm der Moschee, während nebenan die Glocken der orthodoxen Kirche läuten und auch die jüdische Gemeinde in ihre Synagoge einlädt.
Doch Sarajevo, das so entspannt wirkt mit seinem quirligen Basar, ist die Stadt, die es im Krieg am härtesten getroffen hatte. Nachdem sich das Land Anfang 1992 nach einem Referendum für unabhängig erklärt hatte, griff die serbische Armee an. Von April 1992 bis Februar 1996 belagerte sie die Stadt und schoss von den umgebenden Hügeln auf das Häusermeer im Tal. Mehr als 10 000 Menschen wurden getötet, viele durch Scharfschützen.
»Die Auswanderung ist das größte gesellschaftliche Problem, das wir haben.«
Vahidin Preljevic Professor für Germanistik an der Universität Sarajevo
Die Journalistin Aida Cerkez berichtete damals. Etliche Kriegsverbrecher verstecken sich nach wie vor, seien nie angeklagt worden. Der Krieg habe sich gegen das friedliche Zusammenleben von Serben, Kroaten, Muslimen und Juden gerichtet – und genau darum kreise der Konflikt noch heute. Zehntausende junge Menschen haben Bosnien-Herzegowina verlassen: »70 Prozent der Jungen gehen weg.« Von den Jugendlichen, die bleiben, finden viele keine Arbeit.
Judith Brand, die schon lange vor Ort lebt, für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und die Heinrich-Böll-Stiftung gearbeitet hat, spricht sogar von »Berechnungen, dass bis Ende des Jahrtausends niemand mehr in Bosnien lebt«. Auch Vahidin Preljevic, Professor für Germanistik an der Universität Sarajevo, urteilt: »Die Auswanderung ist das größte gesellschaftliche Problem, das wir haben.«
»Krieg im Geiste«
Erich Rathfelder sieht seit Langem eine »Agonie« über dem Land liegen, das er so liebt. Noch immer existiere ein »Krieg im Geiste, der jederzeit wieder zu einem richtigen Krieg werden kann«, sagt der mittlerweile 77-Jährige. Die politischen und ethnischen Kräfte blockierten sich gegenseitig.
Tatsächlich sind die wenigen zentralen Institutionen wie etwa das staatliche Fernsehen BHRT schwach und chronisch unterfinanziert. Die Wirtschaft wird von Metall- und Holzverarbeitung geprägt, Möbel sind ein wichtiges Exportgut. Und die Bundesrepublik ist wichtigster Exportpartner des Landes. Doch die politische Blockade und Korruption schrecken Investoren aus westeuropäischen Ländern ab. Die stärksten Investitionen kommen aus den Nachbarländern Kroatien und Serbien.
Für Städte wie Sarajevo, Kandidat für die Unesco-Weltkulturerbeliste, sowie Mostar, deren Altstadt schon seit 2005 auf dieser verzeichnet sind, ist weiterhin vornehmlich der Tourismus der entscheidende Wirtschaftsfaktor. In der Altstadt von Mostar, während des Jugoslawienkrieges belagert, sind kaum noch Kriegsschäden zu sehen. Die Touristen drängen sich um die berühmte historische Einbogenbrücke über die Neretva, die 1993 durch Beschuss bosnischer Truppen zerstört und nach dem Wiederaufbau 2004 eingeweiht worden war.
Im März 2024 haben die offizielle Beitrittsverhandlungen zwischen Bosnien und Herzegowina und der EU begonnen. Bei seinem Besuch in Sarajevo vor wenigen Wochen forderte der deutsche Außenminister Johann Wadephul die bosnische Regierung auf, »den Weg in Richtung EU weiterzugehen«. Doch in der Praxis geschieht wenig.
Nur die Menschen im Land können die Gegensätze überwinden – davon sind Judith Brand und Vahidin Preljevic überzeugt. »Die Zivilgesellschaft und die Medien stärken«, sei der Weg, sagt Brand, die dabei auf »kleine Organisationen« und »Einzelpersonen« setzt. Der Kulturtheoretiker und Essayist Vahidin Preljevic beschwört den »Geist von Sarajevo« und die Kraft, die von der »gelebten Diversität« ausgehe. Er sieht ein Hoffnungszeichen auch darin, dass manche Auswanderer inzwischen zurückkehren: »Ich hoffe auf eine Trendwende.«
Die Malerin Leijla Busatlic berichtet über die Situation der Kulturschaffenden im Land: »Unser Kampf seit Jahren gilt dem Versuch, das ethnokratische System zurückzudrängen zugunsten der Demokratie.« Doch viele kulturelle Einrichtungen kämpfen ums Überleben, leiden unter finanziellen Problemen. Das Nationalmuseum von Bosnien-Herzegowina in Sarajevo zum Beispiel hatte 2012 deshalb schließen müssen, ist erst drei Jahre später wiedereröffnet worden.
Das international bekannteste Kulturereignis im Land ist das Filmfestival von Sarajevo: Es wurde 1995 in der belagerten Stadt aus der Taufe gehoben und ist heute das größte Filmfestival Südosteuropas, finanziert von privaten Geldgebern. Als berühmtester Kulturbotschafter des Landes galt einst der Regisseur Emir Kusturica, geboren und aufgewachsen in Sarajevo, 1995 Gewinner der Goldenen Palme der Filmfestspiele von Cannes für »Underground«. In Visegrad in der Republika Srpska, dem serbisch dominierten Teil von Bosnien-Herzegowina ist zu erleben, wie zerrissen das Land ist, wie zwiespältig Geschichte und Gegenwart sind.
Instrumentalisierter Literat
1945 erschien der berühmteste Roman des aus einer kroatischen Familie stammenden und heute von den Serben als kultureller Repräsentant reklamierten Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Ivo Andric, »Die Brücke über die Drina«. Er beschrieb die altehrwürdige Brücke in Visegrad als Schnittstelle der Geschichte, wo Orient und Okzident sich verbinden und trennen. Der große Epiker Andric entfaltete in seinem Buch ein grandioses Panorama vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, bevölkert mit unzähligen Figuren: politische Märtyrer und religiöse Eiferer, jüdische Handwerker und islamische Händler, serbische Bauern und österreichische Beamte.
Kusturica ließ nun in Visegrad einen neuen Stadtteil, genannt Andricgrad, errichten, zum Ruhm von Andric sowie serbischer Kultur und Geschichte. Mittendrin ein Andric-Denkmal. Der Regisseur hatte sich während des Krieges 1995 zur serbischen Seite bekannt, unterstützt seither Pläne für ein Groß-Serbien, das Kosovo und Teile von Bosnien-Herzegowina umfassen soll. Kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine traf sich der Regisseur im Kreml mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und beglückwünschte ihn: »Sie sind ein Kämpfer für die Slawen!«
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