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Ukraine: Der Armee laufen die Soldaten weg
Regierung will das Ausmaß der Fahnenflucht ab sofort verschweigen
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft veröffentlicht ab sofort keine Daten mehr über die Zahl von Strafverfahren wegen unerlaubtem Fernbleibens von der Truppe und Desertion. Dies berichtet das Portal »Hromadske« unter Berufung auf Marjana Hajowska-Kowbassiuk, Pressesprecherin der Generalstaatsanwaltschaft.
Nach Angaben der Behörde handelt es sich dabei um eine notwendige und gesetzlich zulässige Maßnahme. Hintergrund sei, dass solche Statistiken von der feindlichen Seite für deren Versuche einer Einflussnahme missbraucht werden könnten.
Derartige Statistiken könnten auch zu falschen Schlussfolgerungen über den moralisch-psychologischen Zustand der ukrainischen Armee führen. Russland könne anhand dieser Daten einschätzen, wie es um die Disziplin, Gefechtsbereitschaft und die Mobilisierung der ukrainischen Streitkräfte steht.
Schweigen aus nationalem Interesse
Insgesamt, so die Generalstaatsanwaltschaft, sei die neue Einschränkung zulässig, da eine weitere Veröffentlichung den nationalen Interessen erheblichen Schaden zufügen könnte.
Im Oktober waren 18 909 Strafverfahren wegen unerlaubten Verlassens der Einheit und 2276 wegen Desertion eröffnet worden. Aus der zuletzt veröffentlichten Statistik der Generalstaatsanwaltschaft ging hervor, dass von Januar bis Oktober 2025 insgesamt 176 000 Verfahren wegen unerlaubten Entfernens aus der Truppe oder Desertion eingeleitet worden waren.
Mit ihrer neuen Geheimhaltungspolitik wollen die ukrainischen Machthaber offensichtlich die zunehmenden Fälle von Fahnenflucht und Desertion eindämmen. Denn die Zahlen zeigen eine rasante Tendenz. In den ersten drei Kriegsjahren gab es insgesamt »nur« knapp 100 000 Verfahren wegen Fahnenflucht.
Soldaten sollen digital überwacht werden
Für die ukrainische Armee wird das allmählich zum Problem. Schon länger klagen Offiziere an der Front, dass es ihnen weniger an Waffen fehlt als an Menschen, die diese gegen die russischen Angriffe einsetzen können.
Die Regierung erwägt deshalb weitere Maßnahmen, um die Ukrainer zum Kriegsdienst zu zwingen. Nach Berichten des Portals »radiotrek« plant das ukrainische Verteidigungsministerium ein vollständiges digitales Tracking mobilisierter Soldaten. Mit modernster digitaler Technik will man wehrfähige Männer überwachen.
Mit ihrer neuen Geheimhaltungspolitik wollen die ukrainischen Machthaber offensichtlich die zunehmenden Fälle von Fahnenflucht und Desertion eindämmen.
Das Portal zitiert Oles Berestowyj, Leiter der IT-Hauptabteilung des Verteidigungsministeriums, der die Einführung eines elektronischen Wehrdokuments fordert. Mit einem digitalen Tracking-System will man die militärärztlichen Gutachten erfassen, die Ankunftszeit eines Soldaten in seiner Einheit sowie alle weiteren Aktivitäten und Bewegungen des Soldaten innerhalb seiner Einheit überwachen. Mit so einem System ließe sich leicht erkennen, wenn ein Soldat Absetzbewegungen unternimmt.
Mit dem neuen System soll unerlaubtes Entfernen von der Truppe rechtzeitig verhindert werden. Insgesamt werde der gesamte Mobilisierungsprozess transparenter und kontrollierbarer, so Berestowyj.
Parlament will härtere Strafen
Auch im Parlament gibt es Überlegungen, die Mobilisierung effektiver zu gestalten. So soll die Verantwortung für Männer, die sich der Mobilisierung entziehen, bald verschärft werden. Dies bestätigten Mitglieder des Parlamentsausschusses für nationale Sicherheit und Verteidigung gegenüber dem Portal »TSN«.
Fedir Wenislawskyj, Mitglied des Verteidigungsausschusses und Leiter des Unterausschusses für Staatssicherheit und Verteidigungsinnovationen, erklärte, dass derzeit intensiv über neue Maßnahmen beraten werde. Welche Sanktionen konkret geplant sind, wollte er nicht kommentieren – es gebe bislang keine Einigung.
Anwalt warnt vor Diskriminierung
Der auf Mobilisierungsrecht spezialisierte Anwalt Roman Symutin hält es für wahrscheinlich, dass neue Beschränkungen jene betreffen werden, die sich einem Dienstantritt entziehen – etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zum Studium.
Er verweist darauf, dass bereits jetzt eine offizielle Anstellung ohne gültigen Wehrpass erschwert ist. Künftig könnten Verstöße gegen Mobilisierungspflichten dazu führen, dass eine legale Anstellung unmöglich wird. Auch Bildungsinstitutionen könnten stärker kontrollieren müssen, ob Studierende tatsächlich am Unterricht teilnehmen und ihren militärrechtlichen Pflichten nachkommen.
Symutin schließt zudem nicht aus, dass Verweigerern der Zugang zu grundlegenden staatlichen Dienstleistungen eingeschränkt wird.
Konflikte mit Mobilisierern nehmen zu
Der Druck, die Löcher in den Reihen der Armee zu stopfen, führt zu immer mehr Gewalt und Konflikten zwischen Vertretern der Mobilisierungsbehörde TZK und betroffenen Männern. In der westukrainischen Region Lwiw griff ein Mann einen TZK-Mitarbeiter bei einer Kontrolle mit einem Küchenmesser an und verletzte ihn. Bereits eine Woche zuvor, am 3. Dezember, hatte ein 30-jähriger Einwohner von Lwiw einen TZK-Soldaten mit einem Messer angegriffen. Der Angegriffene erlag wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen.
In Odessa schlugen mehrere Männer die Scheiben eines Transporters ein, mit dem ein Betroffener mobilisiert werden sollte. Der Mann wurde befreit. In mehreren ukrainischen Regionen wurde beobachtet, wie Männer in Gruppen auf die Straße gehen, um sich gegen die Übergriffe des TZK wehren zu können.
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