Werbung

Von Kretschmann lernen

Bei ihrem Kleinen Parteitag diskutieren die Grünen über Konsequenzen aus ihren Landtagswahlergebnissen

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Zeiten, in denen die Bundesvorsitzenden der Grünen die Hauptredner der Parteitage waren, sind vorbei. Vom Rednerpult deutet Grünen-Chef Cem Özdemir mit seinem Zeigefinger auf einen Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt, der in der ersten Reihe sitzt und auf dessen Worte die Delegierten an Samstag in den Uferhallen in Berlin-Wedding gespannt warten. »Grüner geht es nicht«, sagt Özdemir über die Politik des Mannes, der Winfried Kretschmann heißt. Er hat mit seinen mehr als 30 Prozent bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg vor wenigen Wochen einen historischen Erfolg für seine Partei errungen. Die Frage ist nun, was dies für die Politik der Bundespartei bedeutet. Denn Kretschmann gilt als Oberrealo, der die Grünen thematisch nach rechts verschieben möchte. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Flüchtlingspolitik. Die schwarz-roten Verschärfungen des Asylrechts hat Kretschmann im Bundesrat unterstützt.

Özdemir zitiert bei dem Kleinen Parteitag, der von den Grünen Länderrat genannt wird, einen bekannt gewordenen Tweet des Vorsitzenden der Europäischen Grünen Partei, Reinhard Bütikofer. Dieser hat in dem Internetkurznachrichtendienst geschrieben, dass man Kretschmann nicht kopieren, sondern kapieren solle. Özdemir, der als ein Freund von Kretschmann gilt und aus demselben Landesverband stammt, macht deutlich, was dies für ihn bedeutet. »Unsere Wähler wollen nicht die reine grüne Lehre«, ruft er seinen Parteikollegen entgegen. Die Partei müsse vielmehr in Koalitionen Kompromisse eingehen und dabei »glaubwürdig bleiben«. Das wird nicht einfach. Denn die Grünen sind inzwischen offen für Koalitionen mit jeglichen in den Parlamenten vertretenen Parteien mit Ausnahme der rechten AfD und NPD.

In Baden-Württemberg läuft derzeit alles auf eine grün-schwarze Koalition hinaus. Einige linke Grüne mutmaßen, dass dies dem konservativen Kretschmann in die Karten spielt. Auch Özdemir weiß um die weiter schwelende, aber nicht mehr so oft wie früher direkt ausgesprochene interne Kritik an dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten. »Winfried ist ein grüner MP und kein schwarzer«, lautet die Botschaft des Parteivorsitzenden an die Kretschmann-Gegner. Als Begründung nennt er den Einsatz des Stuttgarter Regierungschefs für die Energiewende.

Nach der freundlichen Vorstellung von Özdemir erklärt Kretschmann der Partei sein Erfolgsrezept. Er spricht ruhig und lässt die Hände zumeist in den Hosentaschen. »Die Leute wollen weniger Kritik von uns hören. Die aktuelle Politik können sie selber kritisieren. Wichtig sind vielmehr unsere Konzepte«, erklärt der Regierungschef. Zudem seien inzwischen die ökologischen Kernthemen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auch das habe den Grünen geholfen.

Kretschmanns Rede kann teilweise als Gegenbeitrag zu den Worten der Ko-Parteivorsitzenden Simone Peter zu Beginn des Kleinen Parteitags gesehen werden. Die eher linke Grüne kritisiert mit heftigen Worten den Pakt der Europäischen Union mit der Türkei, mit dem sich Europa zunehmend vor Flüchtlingen abschottet. »Das ist inhuman und rechtswidrig«, wettert Peter. Die Stimmung in der Partei lässt sich letztlich am Applaus ablesen. Für Peter gibt es lediglich ein freundliches Klatschen. Nach der Rede von Kretschmann stehen die Delegierten auf.

Am Rande des Kleinen Parteitags zeigen sich auch moderate Parteilinke wie Bundestagsfraktionschef Anton Hofreiter ganz im Sinne Kretschmanns und seiner Mitstreiter grundsätzlich offen für eine Koalition mit der Union nach der Bundestagswahl 2017. Auch Rot-Rot-Grün will Hofreiter nicht ausschließen. Eine Mehrheit für diese Option gilt zurzeit aber als unwahrscheinlich. Wie sich die Grünen beim Wahlkampf im nächsten Jahr inhaltlich präsentieren werden, wird der nun gestartete Programmprozess zeigen. Zunächst wird beim Kleinen Parteitag über wenig kontroverse Themen wie die Zukunft der Hebammen und eine ökologischere Mobilität diskutiert. Spannend wird es in den kommenden Monaten, wenn es um die Steuer- und Sozialpolitik gehen wird. Vor der letzten Bundestagswahl hat Kretschmann die Umverteilungsforderungen seiner Partei heftig kritisiert. Bald wird sich zeigen, ob er sich nun bei diesem Thema durchsetzen kann.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal