Israel droht Gaza-Stadt mit Zerstörung

UN vermeldet Hungersnot mitten in Militäroffensive

  • Mirco Keilberth
  • Lesedauer: 4 Min.
Israelische Truppen fahren am 19. August 2025 mit einem Panzer in der Nähe des Grenzzauns Israels zum Gazastreifen.
Israelische Truppen fahren am 19. August 2025 mit einem Panzer in der Nähe des Grenzzauns Israels zum Gazastreifen.

Die Ansage von Israel Katz ist deutlich: »Wenn die Hamas nicht den Bedingungen Israels, der Abgabe der Waffen und der Freilassung der Geiseln, zustimmt, wird sich das Tor zur Hölle öffnen«, so Israels Verteidigungsminister Israel Katz in einem Beitrag auf X. »Dann wird die Hauptstadt der Hamas so aussehen wie jetzt Rafah und Beit Hanoun.« In den beiden von der Israelischen Armee (IDF) eroberten Städten wurden mit Bulldozern viele Gebäude dem Erdboden gleichgemacht.

Die östlichen Vororte von Gaza-Stadt haben israelische Panzer bereits am Donnerstag erreicht. Der Vormarsch auf das Zentrum der Metropole mit einer Million Einwohnern wird unter dem Schutz von Luftangriffen fortgesetzt. Damit hat der von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu lange angekündigte Angriff auf die größte Siedlung in der Enklave begonnen.

Waffenpause nicht in Sicht

Noch am Wochenanfang hatten sich die Vermittler aus Ägypten und Katar optimistisch gezeigt, dass ein vom US-Sondergesandten Steve Witkoff vorgeschlagener, 60-tägiger Waffenstillstand in Kraft treten könnte. Der von der Hamas am Montag akzeptierte Plan sah die Freilassung der 20 in den Gazastreifen entführten und noch lebenden Geiseln in zwei Phasen vor. Doch Netanjahu hielt an den Vorbereitungen zur Einnahme von Gaza-Stadt fest, 60 000 Reservisten erhalten in diesen Tagen ihre Einberufung.

Armeechef Eyal Zamir hat vier Monate für die Eroberung von Gaza-Stadt veranschlagt, Netanjahu fordert nun aber eine Beschleunigung der Offensive, wohl in der Annahme, dass die Bilder von tausenden toten Zivilisten die weltweite Empörung gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen weiter steigern könnten. Dann drohten Israel potenziell Sanktionen und die Anerkennung der Staatlichkeit Palästinas durch weitere Länder.

Die Vereinten Nationen erklärten am Freitag, dass mittlerweile über 500 000 Palästinenser hungern. Gaza-Stadt wird auf der von eins bis fünf reichenden Skala der Versorgungslage nun mit fünf bewertet, der Definition einer Hungersnot. Noch dramatischer soll die Situation weiter nördlich sein. Die israelischen Behörden verweigern Hilfskonvois der Vereinten Nationen seit Monaten die Versorgung vieler Gebiete. Für 86 Prozent des Gazastreifens gilt mittlerweile ein Evakuierungsbefehl.

Um nicht auch noch US-Vermittler Witkoff und damit die US-Regierung vor den Kopf zu stoßen, versprach der israelische Premier parallel mit dem Vorrücken der Panzer den Beginn von erneuten Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Dieser könnte nach seinen Vorstellungen nach der Einnahme von Gaza-Stadt beginnen. Die Zustimmung der Hamas zu Witkoffs Plan sah er wie viele in der politischen Elite Israels als Zeichen der Schwäche. »Die Hamas stimmte nur zu, um den Verlust ihres Hauptquartiers in Gaza-Stadt zu verhindern«, so Netanjahu am Mittwoch.

Gaza-Stadt steht vor der Zerstörung

Die Vertreibung der 600 000 Einwohner und von bis zu 400 000 Flüchtlingen rund um die Stadt, die Zerstörung der Hamas-Tunnel und letztlich der ganzen Stadt sind offensichtlich die Ziele der Offensive. Netanjahu bekräftigte, den Krieg ausschließlich unter für das Land akzeptablen Bedingungen zu beenden. Seine Koalitionspartner Bezalel Smotrich und Ben Gvir sagen weniger diplomatisch, was dies für sie bedeutet: die Vertreibung aller Palästinenser in ein Gebiet rund um die »Verteilstation 1«, in der die US-amerikanisch-israelische »Gaza Humanitarian Foundation« Lebensmittel ausgibt. Die derzeitigen Ausbauten deuten auf die Umwandlung des Areals zu einer Transitstation für die »freiwillige Ausreise« in Drittstaaten hin. Die beschönigende Formulierung für die ethnische Säuberung des Gazastreifens wird jedoch nicht einmal mehr in Israel verwendet. Radikale Nationalisten wie die einflussreiche Siedler-Aktivistin Daniella Weiss sprechen über die »nötige« Vertreibung aller Palästinenser ohne Gewissensbisse. Israelische Menschenrechtsorganisationen wie Betselem scheuen sich nicht, den Krieg als Genozid zu bezeichnen und fordern ein sofortiges Ende.

Das Vorgehen der IDF in Gaza-Stadt entspricht den Angriffen auf Rafah und anderen Orten im Gazastreifen. Auch vor der Einnahme von Rafah war ein Waffenstillstand in Reichweite, doch stattdessen fielen wie jetzt in Gaza-Stadt Bomben auf die Flüchtlingslager am Stadtrand. Bis zu vier Meter tief sind einige der Krater. Die Bomben werden offenbar an willkürlichen Orten abgeworfen, um die Menschen zur Flucht zu bewegen.

Viele Bewohner in Gaza-Stadt hatten in den vergangenen Tagen per SMS oder automatischer Sprachnachricht die Aufforderung erhalten, nach Süden zu fliehen. »Ich bleibe hier, auch wenn es mich das Leben kostet«, sagt Mohamed Ashour, dessen östlich der Stadt gelegener Gemüseanbaubetrieb völlig zerstört ist. So wie der 55-Jährige wollen offenbar viele Bewohner um jeden Preis bleiben. »Viele meiner Verwandten sind bereits dreimal vertrieben worden«, sagt Ashour »nd« am Telefon. »Auch die sogenannten sicheren Orte wurden schließlich von Kampfflugzeugen angegriffen.«

Die Hamas dürfte in dem israelischen Angriff auf Gaza-Stadt den Beginn der entscheidenden Phase ihres militärischen Widerstands sehen. Am Mittwoch griffen 15 Hamas-Kämpfer israelische Soldaten im sogenannten Morag-Korridor bei Khan Junis an. Mehrere Soldaten wurden verletzt, acht Angreifer konnten trotz massivem Einsatz von Helikoptern und Drohnen entkommen. Wegen solcher Guerilla-Aktionen hatte Armeechef Eyal Zamir vor dem Angriff auf Gaza-Stadt gewarnt. Aber den neuen Kreislauf der Gewalt konnte oder wollte auch er nicht stoppen.

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