Alien-Hand und gespaltenes Ich
Wie sich Hirnfunktionsstörungen auf unser Verhalten und unsere Wahrnehmung auswirken
In dem Horrorklassiker »Tanz der Teufel II« erlebt der Held Ash Williams eine böse Überraschung: Seine linke Hand, die plötzlich außer Kontrolle gerät, versucht ihn zu töten. Verzweifelt wehrt sich Ash mit der rechten Hand gegen die Gefahr, die von seinem eigenen Körper ausgeht. Vergeblich. Am Ende sieht er keine andere Möglichkeit, als seine rebellische linke Hand mit einer Kettensäge abzutrennen.
So absurd diese Geschichte auch klingen mag: Es gibt tatsächlich Menschen, die infolge einer neurologischen Störung nur noch eine Hand bewusst steuern können. Sie empfinden die andere Hand, die gleichsam ein Eigenleben führt, als nicht zu ihrem Körper gehörend. Die italienische Neurologin Daniela Ovadia hat einen solchen Fall eindrücklich beschrieben. Ihr Patient, Herr A. genannt, fühlte sich zeitweilig wie von einem Dämon besessen: »Wenn ich mit der rechten Hand ein Stück Fleisch auf die Gabel spießte, pflückte es mir die linke wieder von den Zinken. Wenn das Telefon klingelte und ich die rechte Hand ausstreckte, um den Hörer abzunehmen, schoss die linke hervor und hielt das Telefon einfach fest.« Bisweilen wurde Herr A. von seiner linken Hand auch geohrfeigt. Noch schlimmer erging es anderen Betroffenen. Eine Patientin berichtete, dass eine ihrer Hände plötzlich versucht habe, sie zu erwürgen. Dieses sogenannte Alien-Hand-Syndrom kann durch einen Tumor im Corpus callosum, der Verbindung zwischen beiden Hirnhälften, ebenso ausgelöst werden wie durch einen Schlaganfall oder eine Infektion. Therapieren lässt sich die Störung bis heute nicht. Die Symptome klingen aber oft von allein ab. Bis dahin müssen sich die Patienten selbst behelfen. Will Herr A. etwa eine Aufgabe in Ruhe erledigen, bindet er seinen linken Arm irgendwo fest.
Glücklicherweise tritt das Alien-Hand-Syndrom nur selten auf. Doch es führt uns deutlich vor Augen, dass das, was wir subjektive Willensfreiheit nennen, von neuronalen Prozessen abhängt, die dem Bewusstsein verborgen bleiben. Ob wir schreiben, die Haustür öffnen oder Fahrrad fahren, die meisten unserer Handlungen verlaufen automatisiert. Sie werden von unbewussten Programmen gesteuert, die der US-Hirnforscher David Eagleman etwas uncharmant als »Zombie-Systeme« bezeichnet hat. Normalerweise unterliegen diese einer strikten gehirninternen Kontrolle, die dafür sorgt, dass immer nur ein Verhalten den Output-Kanal erreicht. Bei einer neuronalen Störung jedoch können sich einige Zombie-Systeme verselbstständigen und das Verhalten, aber auch die Ich-Wahrnehmung der nachhaltig beeinflussen.
Denn das Ich ist keine streng lokalisierte Einheit im Gehirn, sondern besteht, wie der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth betont, aus mehreren Komponenten. Das Körper-Ich zum Beispiel vermittelt Menschen das Gefühl, dass dasjenige, worin ihr Ich steckt, ihr eigener Körper ist. Dieser wiederum kann sich jeweils nur an einem Ort aufhalten, wie das Verortungs-Ich sicherstellt. Eine andere Aufgabe erfüllt das Kontroll-Ich. Es gibt mir als Person die Gewissheit, dass ich allein der Urheber meiner Gedanken und Handlungen bin. Das autobiografische Ich steht für mein Empfinden, zu jeder Zeit derselbe Mensch zu sein, während das perspektivische Ich den Eindruck erzeugt, dass ich mich im Mittelpunkt der erfahrbaren Welt befinde.
Die zahlreichen Ich-Zustände sind Funktionen verschiedener Hirnregionen. Und anders als lange vermutet, gibt es keine zentrale Instanz im Gehirn, die all jene Zustände koordiniert, so Roth: »Die unterschiedlichen Ich-Zustände verbinden sich gegenseitig, sozusagen selbstorganisierend.« Dieser Prozess ist eine wahre Meisterleistung des Gehirns, die aber manchmal misslingt, so nach schweren traumatischen Erlebnissen oder bei psychiatrischen Erkrankungen. In der Folge kommt es im Gehirn zu einer Abspaltung von Ich-Anteilen, was bei den Betroffenen selbst, aber auch bei Außenstehenden gelegentlich den Eindruck des Übersinnlichen erweckt.
Für Menschen mit Ich-Störungen ist das Leben oftmals extrem belastend. Manche wissen nicht, wer sie sind oder wo sie sich befinden. Andere glauben, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Darüber hinaus gibt es Personen, die zwar normal denken können, aber nicht das Empfinden haben, dass sie selbst es sind, die denken. Erfahrungen solcher Art dienen oft als Beleg für die Existenz einer transzendenten Realität. In Wahrheit sind sie untrennbar mit gestörter oder eingeschränkter Hirntätigkeit verbunden.
Das Gehirn eines Menschen birgt ein unerschöpfliches Reservoir an neuronalen Strukturen. Es ist nicht nur fähig, bizarre virtuelle Welten zu erschaffen. Es lässt uns zuweilen auch glauben, dass diese Welten real seien. So etwas kann zum Beispiel geschehen, wenn die Beziehung zwischen Körper, Ich und Umwelt nachhaltig gestört ist. Dies führt unter anderem zu einer sogenannten Out-of-Body-Erfahrung. Dabei glauben die Betroffenen, sich außerhalb ihres eigenen Körpers aufzuhalten. Ihr Geist schwebt über der Materie und ungehindert durch Raum und Zeit. Solche Berichte sind zumeist an Nahtoderlebnisse von Personen geknüpft, die vorübergehend klinisch tot waren. Laut einer Umfrage haben knapp fünf Prozent der Deutschen eine solche Ich-Ablösung schon einmal erlebt. Diese relativ hohe Zahl hängt vermutlich damit zusammen, dass die Reanimationstechniken in der Notfallmedizin in den letzten Jahren erheblich verbessert wurden.
Aber auch eine elektrische Reizung bestimmter Hirnregionen kann eine Out-of-Body-Erfahrung hervorrufen - und damit einen Zustand der »Körperlosigkeit«, in dem manche Menschen glauben, dass ihr Ich untrennbar mit der Umgebung verschmolzen sei. Mitunter steigert sich dieses Gefühl bis zur Empfindung einer ozeanischen bzw. mystischen Entgrenzung.
Einige Neurobiologen haben daher versucht, die Erweckungserlebnisse religiöser Führer als Symptome einer Hirnfunktionsstörung zu deuten. Dass etwa aus dem Christenverfolger Saulus der Apostel Paulus wurde, könnte danach die Folge einer epileptischen Erkrankung gewesen sein. Im Jahr 1996 führte der Psychologe Michael Persinger an der Laurentian University in Kanada ein Aufsehen erregendes Experiment durch: Er setzte nichtreligiösen Probanden einen Spezialhelm auf, der ein Magnetfeld erzeugte, welches direkt auf das Gehirn einwirkte. Ein Teil der Versuchspersonen berichtete daraufhin von starken spirituellen Erlebnissen. Ähnliches wiederholte sich bei einer Überprüfung des Experiments in Uppsala, und zwar selbst dann, wenn der Helm gar nicht eingeschaltet war. Die schwedischen Forscher vermuteten hier sicherlich zu Recht einen Placebo-Effekt. Allein dessen Auftreten zeigt jedoch, dass auch für spirituelle Erlebnisse gilt, was sich im Titel eines deutschen Popsongs so anhört: »Das ist alles nur in meinem Kopf«.
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