Regionale Integration kommt unter die Räder

In Südamerika warnen soziale Bewegungen aus Erfahrung vor neuen Freihandelsabkommen

  • Nils Brock, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.
Während Europa über TTIP streitet, stehen auch Lateinamerika neue Freihandelsabkommen ins Haus. Soziale Bewegungen warnen vor einem Ausverkauf und suchen nach Alternativen.

Lucía Sepúlveda hat es normalerweise nicht leicht, in Chile ein Publikum zu finden, wenn sie gegen die sozialen und ökologischen Folgen von Freihandelsverträgen wettert. Das Land ist mit über 80 solcher Abkommen Weltmeister in Sachen zwischenstaatlicher Verträge, die den Austausch von Waren, Dienstleistungen und Finanztransaktionen erleichtern. Und auch wenn das reichste Fünftel der chilenischen Bevölkerung heute 29 mal so viel Vermögen auf sich vereint wie das ärmste - mehr als doppelt so viel wie zur Zeit der sozialistischen Regierung Salvador Allendes (1970-1973) - glauben nicht wenige weiterhin an das Versprechen gesellschaftlichen Wandels durch neoliberalen Handel.

Doch beim Treffen in Santiago muss sich Sepúlveda, Sprecherin des lateinamerikanischen Aktionsnetzwerks gegen Pestizide (RAP-AL), nicht wie sonst auf Kundgebungen heißer schreien. Denn Ende April versammelten sich in Santiago Aktivist*innen sozialer Bewegungen und von Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus dem südlichen Amerika, die die Bedenken der Mittsechzigerin teilen. Sie hören aufmerksam zu, wenn sie vor Gesetzesänderungen warnt, die den Anbau genetisch modifizierter Pflanzen erleichtern und die Existenz von Kleinbauern und ökologischer Agrarprojekte bedrohen. Und sie sind gekommen, um gemeinsam zu diskutieren, wie sich verlängerte Laufzeiten von Patenten, die weitere Deregulierung der Finanzmärkte und die Prekarisierung des Dienstleistungssektors verhindern lassen. »Denn das alles steht uns bevor, falls unsere Parlamente die Transpazifische Partnerschaft tatsächlich ratifizieren sollten, für das die chilenische Regierung bereits im Februar grünes Licht gegeben hat«, sagt Sepúlveda.

Die Transpazifische Partnerschaft (TTP) ist der aktuell am heftigsten umstrittene Freihandelsvorstoß, der weltweit zwölf Länder umfassen soll, darunter »die Großen« wie USA und Kanada und aus Lateinamerika neben Chile auch Peru und Mexiko. Konnten die Linksregierungen der Region in den 1990er Jahren noch eine neoliberale Amerikanische Freihandelszone (ALCA) verhindern, ist in vielen Ländern heute die Rechte auf dem Vormarsch. Deshalb sind auch die Anwesenden aus Argentinien und Brasilien extrem beunruhigt, denn selbst wenn derzeit keine Mitgliedschaft bei TTP ansteht, fürchten sie in der nahen Zukunft den Abschluss bilateraler Abkommen. »Brasilien ist ein interessanter Markt für transnationale Unternehmen, gerade weil die regierende Arbeiterpartei PT in den vergangenen Jahre deren massive Beteiligung gebremst hat«, erklärt Adhemar Mineiro vom Netzwerk zur Integration der Armen (Rebrip). Der Ökonom prognostiziert für die nähere Zukunft unter anderem den Ausverkauf des halbstaatlichen Erdölunternehmens Petrobras und des derzeit völlig unter Wert gehandelten Bausektors. Vor allem Unternehmen aus China und den USA sollen bereits in den Startlöchern stehen.

Doch Lateinamerika sei zugleich geopolitischer Spielball einer weiteren »Weltmacht«, gaben zwei europäische Gäste zu bedenken. Javier Couso, spanischer Abgeordneter der Izquierda Unida im EU-Parlament kritisierte die Europäische Union für ihre aktive Rolle, »den Neoliberalismus nicht nur intern, sondern weltweit zu normalisieren.« Die EU verhandle gerade mit den Ländern die dem »Gemeinsamen Markt Südamerikas« (Mercosur) angehören über eine weitere Liberalisierung der bilateralen Handels- und Finanzpolitik, die sich qualitativ in keinster Weise vom gescheiterten ALCA-Projekt unterscheiden würden. Gaby Küppers, die Cousos Kolleg*innen der Grünen-Fraktion berät, wies zudem auf eine jüngst veröffentlichte Studie hin, die belegt, dass bereits bestehende Abkommen zwischen der EU, Mexiko und Kolumbien der Geldwäsche und Steuerflucht Haus und Hof öffnen. »Wer das auf europäischer Seite ausgehandelt hat, hat sich entweder über den Tisch ziehen lassen oder muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Komplize zu sein«, sagt Küppers dem »nd«.

Seitens der lateinamerikanischen Linken ist Gegenwehr angesagt. Für November diesen Jahres ist ein erster »Kontinentaler Aktionstag gegen Freihandelsabkommen« geplant. »Zugleich ist es wichtig über Alternativen nachzudenken«, sagt Mineiro. Die regionale Integration zu stärken sei entscheidend, und dazu gehöre auch eine kritische Aufarbeitung der bisherigen Zusammenarbeit im Mercosur: »Nicht nur die Regierungen auch die Unternehmen unserer Länder müssen bereit sein, wirtschaftlich zu kooperieren. Denn bis heute haben sie den Mercosur und andere Bündnisse vor allem dazu genutzt, um sich kurzfristig kommerzielle Gewinne zu sichern. Logisch, dass das auf die Dauer nicht funktionieren kann.«

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