Keiner ist zu jung für die Datei

Verfassungsschützer wollen sich an Minderjährige heranmachen – Sammelwut auch in Thüringen?

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes will künftig auch Daten von Minderjährigen unter 16 Jahren verarbeiten. Hat Stephan J. Kramer eine Leseschwäche? Das darf er doch längst.

Das ist schon irgendwie bizarr. Am Montag forderte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen auf einer Tagung in Berlin, sein Geheimdienst müsse künftig Daten von minderjährigen Extremisten speichern können - auch wenn die noch nicht 16 Jahre alt sind. Begründung: Die erst 15-jährige Safia S. hatte Ende Februar in Hannover einen Bundespolizisten niedergestochen und für den Sprengstoffanschlag auf einen Sikh-Tempel am 16. April in Essen sollen zwei 16-Jährige und ein 17-Jähriger verantwortlich sein. Dem Verfassungsschutz seien zudem mehrere Fälle bekannt, in denen Kinder und Jugendliche alleine oder mit ihren Familien nach Syrien oder nach Irak gereist sind, doch die seien für seine Behörde tabu. Der innenpolitische Sprecher der Unionsbundestagsfraktion, Stephan Mayer, fand Maaßens Forderung »vollkommen nachvollziehbar und berechtigt«. Kollege Burkhard Lischka von der SPD-Fraktion erklärte: »Wir können uns über eine Gesetzesänderung unterhalten.«

Das Thema ist wahrlich nicht neu. Seit Mitte 2014 berichtete der Verfassungsschutz immer wieder über die Teilnahme Jugendlicher am Dschihad. Sogar ein namentlich nicht genanntes 13-jähriges Mädchen wurde dabei medial »herumgereicht«. Doch wenn Maaßen ein solches Thema in die Debatte lanciert und er »Feuerschutz« aus der Berliner Regierungskoalition erhält, muss man sich schon fragen, was dahinter steckt.

Ob Stephan J. Kramer das weiß? Er ist Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz - und schloss sich umgehend Maaßens Forderung an. »Wir haben ein massives Problem«, sagte er der »Mitteldeutschen Zeitung«. »Denn wir sehen auch an konkreten Beispielen in Deutschland - siehe Hannover, siehe Essen -, dass Minderjährige nicht nur radikalisiert, sondern instrumentalisiert werden zu Waffen. Die Frage ist, wie wir als Verfassungsschutzämter damit umgehen, um solche Radikalisierungsprozesse frühzeitig erkennen und festhalten zu können.«

Die Antwort ist klar. Im Verfassungsschutzgesetz seines Landes gibt es die Möglichkeit, »Daten über Minderjährige, die das 16. Lebensjahr nicht vollendet haben«, zu verarbeiten. Allerdings nur, »wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen«, dass der oder die Minderjährige eine einschlägige Straftat begangenen haben oder planen. Auch die »Abwehr einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben einer Person« ist ausreichend.

So oder ähnlich steht es auch in den Gesetzen anderer Ämter und das des Bundes besitzt ebensolche Möglichkeiten. Man braucht also mindestens konkrete Hinweise auf eine terroristische Bedrohung. Ist das zu viel verlangt? Wäre eine Alterssenkung auf das Kita-Alter angemessen oder haben die Herren Präsidenten nur eine Leseschwäche?

Bei Maaßen ist das nicht vorstellbar. Kramer ist erst seit Dezember im Amt und sagt, er sieht »im Moment keine andere Alternative«, als die Altersgrenze noch weiter zu senken.

Als Maaßens Echo hat der linke Thüringer Ministerpräsident den frühere Generalsekretär des Zentralrats der Juden sicher nicht an die Spitze des Landesgeheimdienstes geholt. Die rot-rot-grüne Koalition setzte Kramers Bestallung durch, obgleich er sein Jurastudium nie abgeschlossen hat. Er soll Verfassungsschutz anders betreiben als die Bundesbehörde in Köln oder seine Volljuristen-Vorgänger im Provinzamt. Aus gutem Grund, schließlich gibt es nach dem Skandal um den terroristischen Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der von Thüringen aus seinen Anfang nahm, keine andere so in Verruf geraten Geheimdienstbehörde wie die in Erfurt.

Im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag hat man sich deshalb »im Bewusstsein der unterschiedlichen Positionen hinsichtlich der Notwendigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz« darauf geeinigt, die Behörde »weiter grundlegend zu reformieren«. Man verständigte sich, im Laufe der Legislaturperiode eine Expertenkommission zu berufen, »die sich mit der Notwendigkeit und den in einem demokratischen Verfassungsstaat möglichen Befugnissen eines nach innen gerichteten Geheimdienstes beschäftigen wird«. Ziel soll der bessere Schutz der in der Verfassung garantierten Grundrechte sein.

Wenn es gelingt, einen zukunftsfähigen Verfassungsschutz in Thüringen zu schaffen, könne das zum Vorbild für andere Bundesländer werden, tönte Kramer. Doch langsam sind Zweifel angebracht, ob das gelingt. Kramer sitzt zwar im achten Stock der Erfurter Geheimdienstbehörde, doch was ihm da an optischer Weitsicht geboten ist, scheint er nicht in eine inhaltliche, also politische umsetzen zu können. Wem leiht Kramer sein Ohr, wer berät ihn? Oder verirrt er sich ganz alleine im politischen Dickicht? Bereits Anfang März hatte er in einem Interview mit der Erkenntnis überrascht, man brauche in der rechtsextremen Szene V-Leute, um an Informationen zu kommen. Zwar sei das Instrument »hoch risikobehaftet« und wenn er andere Möglichkeiten habe, nutze er die viel lieber. »Aber am Ende des Tages kommt es darauf an, dass wir an diese Informationen rankommen, und wenn Technik versagt, wenn wir andere Quellen nicht haben, dann müssen wir auch zu V-Leuten greifen.«

Angesichts der verheerenden Erfahrungen mit solchen Spitzeln im Terrornetzwerk NSU hatte die Erfurter Koalition versprochen, das bisherige System zu beenden. Was Kramer zu ignorieren versuchte. Die Opposition aus CDU und AfD klatschte. Die Regierung pfiff ihren Angestellten zurück. Zum jüngsten Vorstoß Kramers haben sich bislang weder Claqueure noch Buh-Rufer gemeldet.

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